Tagesdosis

Krieg entwürdigt uns alle | Von Roberto De Lapuente

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Tagesdosis 28112024
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Soldaten gehen dem Mordhandwerk nach, sind also laut einer Glosse von Kurt Tucholsky Mörder. Was dabei vergessen wird: Sie sind auch Ermordete.

Der Krieg wurde steril. Zumindest das Bild davon. Die grausamen Gefechte auf dem Schlachtfeld haben über die Jahre und Jahrzehnte nichts von ihrer Brutalität und Blutrünstigkeit eingebüßt. Doch in der Vorstellung der allermeisten Menschen, die noch nie indirekt oder direkt den Krieg miterlebt haben, kommen die scheußlichen, verstörenden und traumatisierenden Einzelheiten nicht mehr vor. In Propaganda und Popkultur wurde die zerrüttende Kriegswirklichkeit überdeckt von Heldenpathos und Bildern, die, anstatt entstellte Soldatenleichen zu zeigen, ein Erlebnisabenteuer verheißen. Selbige Kriegspropaganda wird in den nächsten Wochen und Monaten zunehmend die Lücken schließen, durch die Dissonanzen in die Köpfe der Menschen sickern könnten, welche es nun kriegstüchtig zu machen gilt. Denn zu diesem Zweck sind authentische Bilder und Vorstellungen vom Schlachtfeld nur störend, sie könnten den geforderten Kampfgeist und die Geschlossenheit der Front schmälern. Um ein erneutes Abgleiten in die Barbarei zu verhindern, braucht die Bevölkerung hierzulande wieder ein ungeschönt realistisches Bild vom Krieg, bevor der Krieg selbst wieder zur Realität wird.

Ein Kommentar von Roberto De Lapuente. 

Es gibt da diese Szene aus Steven Spielbergs „Der Soldat James Ryan“ aus dem Jahre 1998. Eine kleine Einheit von US-Soldaten, die mit einer Sonderaufgabe betraut ist – eben den dem Film namensgebenden Soldaten zu finden –, beugt sich über einen angeschossenen Kameraden: einen jungen Mann, Sanitäter der Truppe. Bei der Erstürmung einer Anhöhe irgendwo in Nordfrankreich, auf der Soldaten der deutschen Wehrmacht eine Maschinengewehrstellung eingerichtet hatten, wurde er verwundet. Ihm wurde mehrfach in die Brust und in den Bauch geschossen. Die Männer reißen ihm das Hemd auf, man sieht mehrere Einschüsse, Sturzbäche von Blut ergießen sich – sie versuchen es abzuwischen, reden dem Verwundeten, der von Sekunde zu Sekunde bleicher wird, gut zu. Sie reißen kleine Päckchen mit Sulfonamid auf, streuen es über die Einschusslöcher.

Aber das Blut wäscht das Antibiotikum weg – die medizinisch ahnungslosen Soldaten haben es in ihrer Panik offenbar mit einem Blutungsstiller verwechselt. Der verwundete junge Sanitäter fragt panisch, wie die Wunde aussieht. Aber seine Kameraden agieren hektisch: Welche Auskunft sollen sie ihm geben? Alle sind sie längst blutrot eingefärbt, die Mullbinden, die sie auf die Einschüsse verteilen, saugen sich in Sekundenschnelle voll.

Der junge Mann, mittlerweile kreidebleich, schreit nach seiner Mama. Er wolle nicht sterben. Die anderen tupfen weiter, reden ihm gut zu, einer hält dem mit dem Tod Ringenden den Kopf. Blut läuft ihm aus dem Mund. Eine Dose Morphin hat man ihm da bereits verabreicht. Der Captain der Truppe weist ihm noch zwei weitere Dosen zu; der Verwundete stirbt in den Armen seiner Kriegskameraden. Ihre Hektik ist verschwunden, Resignation macht sich bei ihnen breit. Einer knackt die sogenannte Hundemarke, die um seinen Hals hängt, von der Kette. Der Tote liegt ausgeblutet zwischen denen, die ihn zu retten versuchten.

Eine entwürdigte Kreatur

Jeder der Hinterbliebenen weiß, dass auch ihn so ein Schicksal erwarten könnte. Und die meisten der Anwesenden werden im Verlauf des Filmes tatsächlich ihr Leben lassen. Der Versuch, für den Angeschossenen noch mal da zu sein, ihn retten zu wollen: Das ist auch ein Kampf gegen die Geister, die sie heimsuchen und die vom eigenen einsamen Sterben künden. Und es ist der Versuch, der menschlichen Kreatur, die auf Schlachtfelder geschickt wird, noch einmal ein letztes Stück Würde zurückzugeben. Doch die Szene ist so voller Hilflosigkeit und Panik, dass das mit der Würde nicht gut gelingt. Der Zuschauer wird Zeuge einer durch und durch entwürdigenden Situation.

Wir sollten uns derart dramatische Szenen wieder zu Gemüte führen. Sie könnten schon bald geächtet, ja vielleicht sogar verboten werden.

Denn die Zeichen stehen auf Krieg – Kriegstüchtigkeit war gestern, nun probt man den Ernstfall: Oder wie sonst sollte man es nennen, wenn die Hybris bundesdeutscher Politik glaubt, sie könne eine Atommacht mit dem Einsatz von Waffen provozieren, die von den Fließbändern deutscher Industrie gelaufen sind?

Noch zaudert der Bundeskanzler, Tauruslstreckenraketen in die Ukraine zu schicken – aber just in dem Moment, da diese Zeilen entstehen, könnte es schon anders sein: Sein Widerstand wird brechen, der Druck ist zu groß, selbst im EU-Parlament drängt man nun.

Und im Krieg werden alle Kräfte auf das Kriegsziel fokussiert. Filme, in denen zu sehen ist, wie Soldaten krepieren, wie sie würdelos auf einem gottverlassenen Feld ihren letzten Atemzug tun, durchsiebt und zu einem klumpigen Brei zerschossen, sind da kontraproduktiv. Wir müssen uns ein Deutschland im Ernstfall ohnehin als ein Land vorstellen, in dem die letzten demokratischen Standards recht schnell aufgehoben werden. Demonstrationen gegen Krieg: Die wird es nicht geben. Defätismus verhagelt jedem Krieg führenden Land die Kriegslaune – wer sich lauthals gegen den Krieg stellt, wer vielleicht anmerkt, dass der NATO-Kurs ins Verderben geführt hat, der sollte wohl mit Inhaftierung rechnen. Auf dem Schlachtfeld werden Zweifel nicht geduldet. Und Deutschland wäre nichts anderes als ein Schlachtfeld.

Wie der junge Sanitäter auf jener französischen Anhöhe im Spielberg-Film, so wird auch der Souverän, die Bürgerin oder der Bürger, zu einer entwürdigten Kreatur werden.

Seine Zweifel, seine Ängste: Nichts hat Platz in einer Gesellschaft unter Waffen.

Am Ende trifft es alle, ob man für Taurus war oder nicht, für eine Auseinandersetzung mit Russland oder nicht: Das ist völlig unerheblich. Der Ernstfall ist ein großer Gleichmacher: Er tötet Pazifisten wie Kriegstreiber gleichermaßen – alle sind sie gleich unter dem Banner der Entwürdigung.

Soldaten sind Mörder – ja, aber …

„Sagte ich: Mord?“, fragte Tucholsky einst, „natürlich Mord. Soldaten sind Mörder“, beantwortete er sich diese Frage selbst. Dieser Ausruf beschäftigte die Gerichte auf deutschem Boden immer wieder. Letztlich darf man diese Aussage treffen, denn man beleidigt oder entwürdigt niemanden persönlich. Er ist aber nur Teil einer viel größeren Wahrheit. Natürlich morden Soldaten – im Gefecht zaudert man nicht, da mordet man oder man wird ermordet. Gemeinhin drückt man das so nicht aus, weil Mord etwas Kriminalistisches ist und Staaten, die Kriege führen, ja kein Fall für die Kriminalstatistik sein wollen.

Im Krieg wird man daher getötet – oder man bleibt im Felde, um es noch neutraler auszudrücken. Dennoch bleibt es Mord, der legitimiert wird.

Soldaten sind aber eben nicht nur Mörder – sie sind Ermordete. Sie könnten grüßen wie die Gladiatoren im alten Rom: Die Todgeweihten grüßen dich! Sie morden, weil sie sonst ermordet werden. Diese Erkenntnis ist eigentlich keine. Man weiß es im Grunde, nur befasst man sich nicht gerne damit. Die Dynamiken des Krieges machen aus einfachen Männern – vielleicht auch bald schon aus einfachen Frauen, obgleich das neue Wehrgesetz von Pistorius Frauen noch ausklammert – regelrechte Bestien. Wenn sie diese Transformation nicht durchmachen, haben sie noch weniger Chancen als ohnehin schon.

Wie wichtig wäre es in dieser Stunde, auch Soldaten auf die Seite der Vernunft zu bekommen. Sicher, ehemalige Militärs versuchen Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen. Man denke an den General a. D. der Luftwaffe Harald Kujat oder an den Brigadegeneral a. D. Erich Vad: Beide wollen den Krieg nicht – Vad weist darauf hin, dass es Politiker sind, die Kriege beginnen. Aber nicht Soldaten. Aus der Bundeswehr heraus vernimmt man keine kritischen Stimmen. Dort ist es ruhig, obgleich man davon ausgehen muss, dass die jungen Leute durchaus Angst haben dieser Tage.

Planen sie schon das Ende ihrer Existenz? Besprechen sie das mit ihren Liebsten?

Soldaten sind Ermordete. Wir waren schon mal weiter als heute. In den Achtzigern und Neunzigern gab es eine Reihe hochkarätiger Antikriegsfilme. Der oben genannte Film um einen Soldaten namens James Ryan stand in der Kritik, mit viel zu viel US-Pathos zu hantieren. Und das ist sicherlich richtig: Natürlich bedient der Regisseur die Klischees – und das Star-Spangled Banner flattert im Intro und beim Outro gleichermaßen. Aber zwischendrin wagte Steven Spielberg es, die Gräuel des Krieges minutiös zu zeigen. Besonders in jener Sequenz, die die Erstürmung des Strandes in der Normandie zeigt, findet sich nichts, was den Krieg auch nur in Ansätzen verherrlichen würde. Aus dem Bauch tretende Gedärme, die sich ein getroffener Soldat mit beiden Händen im Körper zurückhalten will – das ist keine Werbung für den Krieg.

Heldenhafter Krampf

Man muss diese Bilder als den Versuch verstehen, den Krieg erschweren zu wollen. Wir leben in Zeiten, da wir zum Glück selbst kein Kriegsszenario vor unserer Haustür erlebt haben. Daher hat der zeitgenössische Film irgendwann die Aufgabe übernommen, den Krieg in die Kinos zu bringen – oft als sogenannten Antikriegsfilm, ein Genre, das die Brutalität des Waffenganges nicht etwa hinter Filter bannt oder zum richtigen Moment abblendet, um den Zuschauer nicht zu belästigen. Nein, er will dem Zuschauer zusetzen, er soll auf seinem Sitz herumrutschen und soll sich dem Unerträglichen stellen. Er leidet alleine vor sich hin, während ihn die Bilderflut voller Gewalt, zerrissener Leiber und zerklüfteter Straßen und Städte ereilt. Wie der Soldat alleine stirbt, so soll auch der Rezipient für sich alleine leiden. Und alleine starb auch der Sanitäter im oben genannten Film: Alleine – in den Armen seiner Kameraden. Das Letzte, was er sah, war Hektik, angsterfüllte Gesichter. Aber keine Liebe. Wer will so sterben?

Der Autor dieser Zeilen kam spät zum Kino: Erst mit 14 Jahren besuchte ich eine Kinovorstellung. Wo andere als ersten Kinofilm ihres Lebens mit „Bernhard und Bianca“ glänzen oder mit der „Unendlichen Geschichte“, nenne ich – zur Verwirrung vieler, denen ich das kundtat – Joseph Vilsmaiers „Stalingrad“. Die Landser, wie sie von Minute zu Minute immer tiefer in die Hölle geraten, wie sie nach der Vernichtungsschlacht peu à peu zu lebendigen Leichen werden und am Ende völlig geschwächt erfrieren: Das hinterlässt Eindruck – in so eine Situation sollte nie mehr jemand geraten müssen.

Krieg ist eines Menschenlebens unwürdig. Wenn die Würde des Menschen unantastbar sein soll, dann ist der Krieg niemandem zumutbar.

Das Gerede vom heldenhaften Kampf, den jetzt noch die Ukrainer führen – aber bald wird man auch hierzulande solche Floskeln verwenden –, ist eine würdelose Satzhülse. Es mag ja sein, dass ein gewisser Mut notwendig ist, um sich in dieses Schlachtgetümmel zu werfen. Mut – und der Druck von außen, unter Androhung für Leib und Leben kämpfen zu müssen, wohlgemerkt. Aber Helden sterben nicht – nicht in modernen Varianten, die unter dem Label von Marvel oder D.C. Welten retten. Und falls doch: Sie sterben nicht als völlig unkenntliche Fleischklumpen, zerstückelt, zerrissen, das Innere nach Außen gestülpt.

Diese Sprache mag manche anekeln. Verständlich. Ich habe neulich mit dem ehemaligen Kriegschirurgen Flavio Del Ponte telefoniert. Er hat sich zeit seines Lebens gegen Antipersonenminen eingesetzt. Nun werden die USA welche in die Ukraine liefern – und die Länder, die diese Minen ächteten, schweigen laut. Ich bat Del Ponte um einige Worte und um Fotos von Opfern.

Lieber Leser, es ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe: Aber man muss es sich ansehen – muss es zeigen. Die Abwesenheit des Bestialischen, wenn wir vom Krieg sprechen, ist ein gravierendes Problem.

Wenn den Menschen präsent ist, wie Krieg am menschlichen Körper aussieht, dann betrifft es sie persönlich. Denn einen Körper zu haben, das verbindet uns alle – das und das Wissen darum, wie elend es ist, wenn dem Körper zugesetzt wird.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Roberto J. De Lapuente, Jahrgang 1978, ist gelernter Industriemechaniker und betrieb acht Jahre lang den Blog ad sinistram. Von 2017 bis 2024 war er Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen. Er war Kolumnist beim Neuen Deutschland und schrieb regelmäßig für Makroskop. Seit 2022 ist er Redakteur bei Overton Magazin. De Lapuente hat eine erwachsene Tochter und wohnt in Frankfurt am Main.

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 27. November 2024 bei manova.news

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Bildquelle: PRESSLAB / shutterstock


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