Ein Kommentar von Thomas Röper.
Der Angriff der Hamas ist schrecklich und natürlich durch nichts zu rechtfertigen, weil er in erster Linie zivilen Zielen gilt. Trotzdem, oder gerade deshalb, muss man über die Gründe dafür reden. Dabei zeigt sich, dass der Westen eine Mitschuld an dem Krieg in Israel trägt.
Westliche Medien sind wieder im Modus der Kriegspropaganda und stellen die Palästinenser pauschal als Terroristen da. Die Berichte westlicher Medien sind einseitig und emotional und sie handeln fast ausschließlich von dem Leid, das die Hamas den Menschen in Israel zufügt. Im Spiegel tragen die Artikel Überschriften wie „Hamas-Angriff auf Israel – »Sie wollen uns auslöschen« <1>“ und beschäftigen sich sehr emotional mit Einzelschicksalen von Israelis.
Der Westen ist parteiisch
Was dabei kritisierenswert ist, ist die Tatsache, dass es in westlichen Medien solche Artikel fast nie über die Schicksale der Palästinenser gab, die seit 70 Jahren unter der israelischen Besatzung leiden. Palästina ist geteilt, die Menschen dort sind faktisch rechtlos, Israel riegelt die Palästinensergebiete regelmäßig und willkürlich ab und klaut ihnen mit seiner als illegal angesehenen Siedlungspolitik ihr Land. Aber das Leid der Palästinenser spielt in den westlichen Medien praktisch keine Rolle.
Der Westen steht ganz klar und parteiisch auf der Seite Israels, was eine Friedenslösung unmöglich macht. Der Westen ignoriert den illegalen Besetzungen von Land, seien es die Golanhöhen oder Gebiete der Palästinenser. Auf diese Weise bleibt den Palästinensern, die seit Jahrzehnten in Rechtlosigkeit und Perspektivlosigkeit leben, kaum eine andere Wahl, als mit Verzweiflungstaten zu reagieren.
Ich sage es ganz klar: Bewusste Angriffe auf Zivilisten sind durch nichts zu rechtfertigen und ich will den Terror, mit dem die Hamas derzeit Israel überzieht, keineswegs schönreden, sondern bin davon genauso schockiert, wie die meisten von uns. Aber zur Wahrheit gehört leider auch, dass Israel gegenüber den Palästinenser auch Methoden des willkürlichen Terrors anwendet.
Dass die Palästinenser Wohngebiete in Israel mit Raketen beschießen, rechtfertigt nicht, dass Israels Luftwaffe ganze Hochhäuser mit Wohnungen im Gazastreifen sprengt. Aber genau das passiert und weder der Terror der Hamas gegen israelische Zivilisten, der sich auf dem Jahrzehnte andauernden Konflikt begründet, noch der Terror Israels gegen palästinensische Zivilisten ist durch irgendetwas zu rechtfertigen.
Im Gazastreifen gibt es bereits 180.000 Binnenflüchtlinge, die ihre Wohnungen verlassen mussten oder verloren haben, aber aus irgendeinem Grund gibt es in westlichen Medien wie dem Spiegel keine emotionalen Berichte über die Schicksale dieser Menschen. Israel hat eine vollständige Blockade des Gazastreifens verkündet, was bedeutet, dass keine Lebensmittel mehr geliefert werden, dass die Stromversorgung nicht gewährleistet ist und dass die Flüchtlinge keine Möglichkeit haben, den Gazastreifen, der von der israelischen Luftwaffe bombardiert wird, zu verlassen. Aber in westlichen Medien gibt es keine emotionalen Berichte darüber, was das für die betroffenen Menschen bedeutet.
Diese offen einseitige und parteiische Berichterstattung der westlichen Medien trägt ein Mitschuld an diesem und früheren Kriegen in der Region. Würden die westlichen Medien seit Jahrzehnten genauso emotional über das Schicksal und Leid der Palästinenser berichten, wie sie über das Schicksal und Leid der Israelis berichten, würde die öffentliche Meinung Druck auf die westlichen Regierungen ausüben, den Konflikt endlich zu beenden.
Menschen leiden auf beiden Seiten
Wenn Israelis gegen den Terror von Palästinenser-Organisationen protestieren, haben die westlichen Medien dafür Verständnis. Über Demonstrationen von Palästinensern gegen den israelischen Terror wird hingegen ganz anders berichtet, der Spiegel titelte beispielsweise „Terror im Nahen Osten: Hassdemos weltweit – aber auch Solidarität mit Israel“ <2>. Aber wo ist die Solidarität des Westens mit den Palästinensern, wenn Israel UN-Resolutionen ignoriert und die Palästinenser ihrer Menschenrechte beraubt?
Man kann die Menschen auf beiden Seiten verstehen, gerade deshalb wäre so wichtig, dass die westlichen Medien auch beide Seiten zu Wort kommen lassen. Wie sonst soll es irgendwann mal Frieden und Versöhnung geben?
Die Mitschuld des Westens
Durch seine einseitige Unterstützung Israels hat sich der Westen an dem Leid im Nahen Osten mitschuldig gemacht. Natürlich hat Israel das Recht auf die Existenz seines Staates, das bestreitet kein vernünftiger Mensch, aber warum tritt der Westen nicht genauso kompromisslos für das Existenzrecht eines palästinensischen Staates ein?
Für ein Ende des Konfliktes gibt es nur eine Lösung: Der Westen muss Israel dazu drängen, endlich die Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren. Die Palästinenser brauchen einen unabhängigen Staat in ihren alten Grenzen, denn in den heute faktischen Grenzen wäre so ein Staat nicht lebensfähig.
Man stelle sich einmal vor, der Westen hätte Israel dazu gedrängt, der Gründung eines lebensfähigen palästinensischen Staates zuzustimmen und der Westen hätte dann nur fünf Prozent der Summe, die er der Ukraine überweist, jährlich dem palästinensischen Staat als Wirtschaftshilfe überwiesen, damit er eine wirtschaftliche Perspektive hat.
Dass die Menschen in Palästina eine Perspektive sehen, dass sie zu Wohlstand kommen, ist das einzige Rezept, den Terroristen das Wasser abzugraben. Sie rekrutieren ihre Kämpfer aus dem endlosen Heer der verzweifelten Menschen, das die vom Westen unterstützte israelische Palästina-Politik erschaffen hat.
Solange der Westen Israel einseitig unterstützt, ist er ein Teil des Problems, aber ganz sicher kein Teil der Lösung.
Palästina hat offiziell knapp fünf Millionen Einwohner. Solange die keine Perspektive haben, wird der Konflikt weitergehen. Man kann nicht ignorieren, dass es diese fünf Millionen Menschen gibt, und man fragt sich, was die israelische Regierung und der Westen wollen. Sollen diese Menschen einfach verschwinden? Aber wohin?
Ich will den Gedanken nicht zu Ende denken.
Kritik an der israelischen Regierung?
Im Westen ist es üblich, jede Kritik an der israelischen Regierung als antisemitisch zu bezeichnen. Das ist natürlich Unsinn, denn wenn jemand die französische Regierung kritisiert, wird er nicht als anti-französisch bezeichnet. Und wer die deutsche Regierung kritisiert, ist nicht anti-deutsch. Eher im Gegenteil, denn derzeit handelt die deutsche Regierung offen gegen die Interessen der Menschen in Deutschland, wie alle Umfragen zeigen.
Das gleiche gilt auch für Israel. In meinen Augen handeln die israelischen Regierungen der letzten Jahre oder Jahrzehnte anti-israelisch, denn sie tun nichts, um den Konflikt zu lösen. Dass die Unterdrückung der Palästinenser keine Probleme löst, sondern nur Probleme schafft, müssten die letzten 70 Jahre doch zu Genüge bewiesen haben.
Auch die Menschen in Israel wollen in Freiheit, Frieden und Wohlstand leben, aber Frieden wird es nur geben, wenn sie eine Lösung finden, die auch den Palästinensern Freiheit, Frieden und Wohlstand ermöglicht. Solange die israelischen Regierungen das verhindern, handeln sie in meinen Augen anti-israelisch und gegen die Interessen der Menschen im eigenen Land.
Wie Frieden möglich wäre
Viele wenden ein, wenn morgen ein lebensfähiger palästinensischer Staat entsteht, würde es Jahrzehnte dauern, bis Frieden und Versöhnung einkehren, weil die Wunden zu tief sind, die man sich dort gegenseitig zugefügt hat.
Das halte ich für falsch, denn es gibt Beispiele dafür, dass so etwas schneller möglich ist. Nehmen wir Deutschland und Frankreich, die 70 Jahre lang „Erbfeinde“ waren. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die französischen und deutschen Regierungen auf Versöhnung gesetzt, sie haben den Jugendaustausch gefördert und nach wenigen Jahren haben deutsche und französische Jugendliche und Studenten zusammen für ein einiges Europa demonstriert und symbolisch Schlagbäume an der französisch-deutschen Grenze eingerissen.
Das wäre auch im Nahen Osten möglich, wenn man endlich entschlossen die ersten Schritte in diese Richtung machen würde. Ja, es würde trotzdem zehn oder fünfzehn dauern, bis israelische und palästinensische Jugendliche sich so begeistert zusammenfinden, wie es deutsche und französische Jugendliche in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts getan haben.
Aber was ist denn die Alternative dazu? Noch mal 70 Jahre Krieg, Leid und Unterdrückung in der Region? Oder gar die Auslöschung des palästinensischen Volkes? Das kann doch niemand wollen!
Wäre der Westen wirklich am Frieden interessiert, würde er entsprechend handeln. Stattdessen investiert er in Waffen, anstatt in Verständigung und Versöhnung.
Quellen
<1> https://www.spiegel.de/ausland/angriff-auf-israel-junge-frau-bangt-um-das-leben-ihrer-eltern-a-654b7afe-fcdb-4050-a0fd-5ae6ec87ab6f <2> https://www.spiegel.de/ausland/hamas-angriff-auf-israel-hass-demos-weltweit-und-ein-wenig-empoerung-a-78925a49-90e9-43ce-b955-07f5e1f4152c
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 10. Oktober 2023 bei anti-spiegel.ru
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Bildquelle: ChameleonsEye / shutterstock
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