Der Name der Stadt Kursk war des öfteren verbunden mit bedeutenden Ereignissen in der russischen Geschichte. Nun hat die ukrainische Armee dort die Grenze überschritten. Im Westen findet Selenskij dafür Zuspruch. Aber viele rätseln auch über seine Motive und Erfolgsaussichten.
Ein Standpunkt von Rüdiger Rauls.
Neue Hoffnung
Am 8. August meldeten die Nachrichtenagenturen, dass ukrainische Einheiten bei Kursk die russische Grenze überschritten und Landstriche mit mehreren Ortschaften erobert haben, darunter die Kleinstadt Sudscha. Bis zuletzt war die Rede von einem Gebiet in der Größe von etwa tausend Quadratkilometern. Angesichts der gewaltigen Ausdehnungen Russlands ist das unbedeutend. Wesentlich größer ist die propagandistische Reichweite dieser Meldung. Erstmals seit über 80 Jahren stehen fremde Truppen in Russland.
Nachdem westliche Medien in der letzten Zeit immer häufiger eingestehen mussten, dass ihre hochtrabenden Träume nach dem Beginn des Krieges nicht Wirklichkeit geworden waren und die Ukraine den Krieg zu verlieren drohe, sprudelten manche nun wieder über vor Zuversicht. Der britische Telegraph trumpfte auf,
„mit dieser Aktion wurde im Krieg gegen Putin der Spieß umgedreht“(1).
De Volkskrant aus Amsterdam meinte sogar,
„wenn die Drohungen selbst nach dem Vordringen auf russisches Territorium nicht wahr werden, erscheinen Putins rote Linien erneut als Bluff“(2).
Gibt also keinen Grund mehr zur Zurückhaltung gegenüber Russland? Jedenfalls scheint der Übermut der Warschauer Gazeta Wybrocza noch weiter zu gehen. Sie stellt fest, dass all die Angst vor einer Ausweitung des Krieges, die besonders Deutschland von der Lieferung der Taurus-Marschflugkörper abgehalten hatte, durch den ukrainischen Vormarsch auf russisches Gebiet sich als unbegründet erwiesen habe. Die atomare Abschreckung Russlands sieht sie als Papiertiger an. Denn die
„Drohungen des Kremls sind irgendwie verstummt“ (3).
Was sie als Beweis für Moskaus Zahnlosigkeit anzusehen scheint, macht sie tollkühn: „Denn wenn es so einfach war, in russisches Gebiet hinter der Front einzudringen, wie gut bewacht ist dann zum Beispiel (die russische Enklave) Kaliningrad an der Grenze zur NATO?“ (4). Für sie ist nach den Ereignissen von Kursk klar, dass man vor Russlands Drohungen keine Angst haben sollte und sich vielleicht sogar noch etwas mehr herausnehmen könnte. Träumt man allen Ernstes davon, dass man sich ohne Konsequenzen die russische Enklave einverleiben könnte, nur weil Russland an seiner Grenze Schwäche zeigte?
Auch der Kommentator der Frankfurter Allgemeine Zeitung, Reinhard Veser, sieht Grund für neuen Optimismus. Für ihn ist das Vordringen ukrainischer Verbände „eine Blamage für die russische Armee“ (5). Aber er ist doch realistisch genug zu erkennen, dass Putin dadurch nicht in Bedrängnis kommen wird. Dennoch machten diese Ereignisse deutlich, dass
„der Aggressor trotz seiner Überlegenheit verwundbar ist“. (6).
Der Kursker Vorstoß sollte deshalb „Anstoß sein, der Ukraine mehr Freiheit beim Einsatz der aus dem Westen gelieferten Waffen zu lassen“ (7). Zwar ist auch Veser überzeugt, dass Putin eine solche Überraschung wie die von Kursk wird wegstecken können. Aber „mehr davon könnten für ihn zum Problem werden“ (ebenda). Im Westen scheint trotz aller Unklarheiten über Hintergründe und Aussichten der Kursker Aktion wieder die Hoffnung auf den Endsieg über Russland aufzukeimen.
Allen voran gibt die Frankfurter Allgemeine die Richtung vor. „Moskau muss kehrtmachen, dann können die Waffen ruhen. Jedes Einfrieren des Eroberungsfeldzug belohnt den Aggressor … Deshalb muss nicht nur die Ukraine gewinnen … Auch Deutschland muss unangreifbar sein“(8). Verhandlungen oder gar die ungeliebte Kampfpause scheinen fürs Erste abgesagt zu sein. Vielleicht war das Selenskijs Absicht, die Vertreter von Verhandlungen mit Russland im westlichen Lager zum Schweigen zu bringen. Denn wer wollte jetzt noch so etwas fordern, wo die Ukraine das Gesetz des Handelns übernommen zu haben scheint.
Motive und Rätsel
Selenskij selbst hatte sich wie die gesamte ukrainische Führung und Armeespitze über die Hintergründe dieses Vormarsches bisher in Schweigen gehüllt. Zwar schießen die Spekulationen im Westen ins Kraut, aber auch die Bedenken. Die Neue Züricher Zeitung schickt ein Stoßgebet zum Himmel:
„Hoffentlich haben sie einen Plan“ (9).
Erst eine Woche nach dem Beginn der Operation äußerte sich nun der ukrainische Präsident zu diesem Vorhaben. Es hat den Anschein, als hätte man die Reaktionen der Partner, aber auch Russlands abwarten wollen, um dann aus deren Stellungnahmen eine Begründung und Strategie vorstellen zu können, die besonders den Erwartungen und Befürchtungen der westlichen Partner Rechnung trägt. Es deutet aber auch darauf hin, dass Kiew sich bei Beginn der Aktion selbst nicht darüber im Klaren war, was es erreichen will. Die Motive hängen anscheinend davon ab, wie erfolgreich der Angriff sein wird.
Von Anfang an war vonseiten der westlichen Partner über Selenskijs Motive spekuliert worden. Das deutet darauf hin, dass Kiew ohne Rücksprache mit den westlichen Führungskräften gehandelt hat. Vermutlich befürchtete man, dass diese Pläne sonst vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangt wären oder – noch schlimmer – an den Einwänden der Waffensteller hätten scheitern können.
Zwar hat der Westen teilweise den Einsatz der eigenen Waffen über die Grenze hinweg auf russisches Gebiet gelockert, doch geschah das in einem solchen Ausmaß, das Russland das weiterhin als begrenzten Einsatz werten konnte. Besonders in Washington scheint man trotz weiterer Waffenlieferungen großen Wert darauf zu legen, dass die Erklärungen zu der Ausweitung des Waffeneinsatzes nicht den Eindruck einer unbegrenzten Eskalation des Konflikts erwecken.
So scheint diese Aktion der ukrainischen Führung nicht nur gegen Russland gerichtet zu sein sondern auch gegen die eigenen Verbündeten, die man vor vollendete Tatsachen stellen will. Man gibt ihnen zu verstehen, dass man sich nicht länger vorschreiben lässt, wie man den Krieg zu führen hat, wo und welche Waffen dabei zum Einsatz kommen. Dabei werden die Ukrainer gerade von solchen Kräften im Westen bejubelt, die die Zurückhaltung gegenüber Russland ohnehin für einen Fehler halten. Denn in ihren Augen ist Russland ein Papiertiger, der schwach und besiegbar ist. Diese Sicht sehen sie durch den ukrainischen Husarenritt bestätigt.
Andere Stimmen vermuten in dem Vorgehen der ukrainischen Armee die Vorbereitung von Verhandlungen, für die man die eigene Position stärken will,
„weil die Ukraine bei Verhandlungen mehr Macht und Verhandlungsmasse haben würde“(10).
Nun kann man den Russen russisches Gebiet zum Tausch gegen solches anbieten, das im Donbass von der russischen Armee gehalten wird.
Und natürlich geht es auch darum, mit diesem Erfolg einen Stimmungswandel in der eigenen Armee und Bevölkerung zu bewirken. Denn die Entwicklung an der Front im Donbass bot wenig Hoffnung darauf, all das erreichen zu können, was man nun mit diesem Coup im Kursker Gebiet zu erreichen glaubt. Und all diese Aspekte bedient Selenskij in seiner gerade veröffentlichten Mitteilung.
Und Russland?
Darin spricht Kiew von der Schaffung einer Sicherheitszone für das Gebiet Sumy, wovon bisher nie die Rede war. Aber damit nimmt er westlichen Kritikern den Wind aus den Segeln, die doch gerade erst den Einsatz westlicher Waffen nach Russland in solche Gebiete hinein genehmigt hatten, von denen eine direkte Bedrohung für ukrainisches Gebiet ausgeht wie im Falle der Stadt Charkow. Selenskij scheint von dem Erfolg seiner Armee, aber auch der propagandistischen Wirkung dieses Erfolges beflügelt, schwächt er doch so manches Problem der letzten Zeit ab.
Die Unterstützung seiner westlichen Verbündeten wächst wieder, von Verhandlungen ist fürs erste keine Rede mehr. Das eroberte Gebiet diene nun als Faustpfand,
„um im Gegenzug von Russland besetzte Gebiete im Osten und Süden der Ukraine zurückzuerlangen“ (11).
Es gehe darum, Russland unter Druck zu setzen,
„sich auf ernsthafte Friedensgespräche einzulassen“ (12).
Der Erfolg des Kursk-Vorstoßes habe die Moral in der ukrainischen Armee und Gesellschaft wieder aufleben lassen.
Aber damit nicht genug, entwirft er noch viel weiter gehende Szenarien. Er bringt die Stadt Kursk in Zusammenhang mit den dramatischen Ereignissen um den Untergang des U-Boot mit gleichem Namen. Damals sei dieser Name mit Putins Aufstieg an die Macht verbunden gewesen. „Jetzt sehen wir das Ende davon, und es ist wieder Kursk“ (13). Die Vorstellung eines Sieges über Russland hat neue Kraft bekommen. In seiner Euphorie scheint Selenskji aber zu vergessen, dass Kursk auch für die größte Panzerschlacht der Geschichte steht. Und damals besiegte die Rote Armee die Panzerwaffe der faschistischen Invasoren.
Die russische Führung sagt bisher wenig dazu, außer dass man den Feind vernichten werde. Auch im Westen gibt es viele Stimmen, die diesen ukrainischen Vorstoß sehr kritisch sehen. Im Überschwang des Erfolgs sprechen ukrainische Militärs davon, dass die russische Armee überrascht worden sei, und sie vermitteln den Eindruck, über eine neue Strategie zu verfügen. Denn „Überraschungen seien in der Kriegsführung ein Schlüsselfaktor … und es gehe darum, die russische Armee mit asymmetrischen Angriffen aus dem Konzept zu bringen“ (14).
Viele Experten hegen Zweifel daran, dass die ukrainische Armee in der Lage ist, das Gebiet zu sichern. Und dann stellt sich die Frage, ob der Einsatz an Material und Personal, das an der Front im Donbass fehlt, nicht bei Kursk sinnlos vergeudet wurde.
Andererseits stimmt es bedenklich, dass die ukrainischen Militärs selbst über die Leichtigkeit des Erfolges überrascht zu sein scheinen. Denn man weiß nur zu genau, dass solche Husarenritte „heute aufgrund fortgeschrittener technischer Mittel zur Aufklärung fast unmöglich zu erreichen“(15) sind. Unter anderem war bereits kurz nach der Invasion der ukrainischen Truppen in russischen Foren darüber berichtet worden, dass
„die Pläne der Gegner … vorab bekannt gewesen seien“ (16).
Unter diesen Umständen stellt sich die Frage, ob die ukrainischen Verbände nicht mit Hurra in eine aufgestellte Falle gelaufen sind. Der weitere Verlauf der Operation besonders von russischer Seite, wird zeigen, ob nicht für einen dünnen Propagandaerfolg wichtige ukrainische Ressourcen unnötig verheizt wurden, die an anderer Stelle wesentlich sinnvoller hätten eingesetzt werden können. Denn bis jetzt ist nicht erkennbar, dass die russische Armee Einheiten aus dem Donbass abzieht und damit der Druck auf die ukrainischen Truppen im Donbass nachlässt, während kampferprobte Kräfte in Kursk gebunden sind.
Quellen und Anmerkungen
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 12.8.24: Putin gedemütigt (aus The Telegraph, London)
(2) FAZ vom 12.8.24: eine Botschaft an den Westen (aus De Volkskrant, Amsterdam)
(3) FAZ vom 13.8.24: Image-Katastrophe für Putin (aus Gazeta Wybrocza, Warschau)
(4) ebenda
(5) FAZ vom 10.8.24: Handlungsfreiheit für die ukrainische Armee
(6) ebenda
(7) ebenda
(8) FAZ vom 12.8.24: Was wir verteidigen
(9) FAZ vom 12.8.2024: Hoffentlich hat Kiew einen Plan (aus Neue Züricher Zeitung)
(10) FAZ vom 14.82024: Vorstoß deckt Russlands Schwächen auf (aus ABC Madrid)
(11) FAZ vom 15.8.2024: Selenskyj formuliert Ziele des Kursk-Vorstoßes
(12) ebenda
(13) ebenda
(14) FAZ vom 14.8.2024: Eine Frage der Sicherheit
(15) ebenda
(16) FAZ vom 9.8.2024: Was bezweckt die Ukraine mit der Offensive in Kursk?
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Nitiphonphat / shutterstock
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