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Massaker in Syrien: Die Mitschuld des Westens | Von Tilo Gräser

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Ein Kommentar von Tilo Gräser.

In Syrien zeigen die mit westlicher, israelischer und türkischer Hilfe an die Macht gekommenen Dschihadisten, wessen Geistes Kind sie sind. Berichten zufolge massakrierten sie in den letzten Tagen mehr als 1.000 Menschen im Westen Syriens, zumeist Alawiten, töteten Frauen und Kinder, misshandelten und erschossen Männer. Die Gewalt traf aber auch die christliche Minderheit, wie berichtet wurde. Die Verbrecher haben sich noch dabei gefilmt und die Videos auf Online-Plattformen hochgeladen.

Es ist unerträglich und menschenverachtend, was da in aller Offenheit geschieht – und doch war es absehbar. Die Gewalt konzentriert sich auf das Kernland der alawitischen Gemeinschaft, ein Ableger des schiitischen Islam, der etwa zehn Prozent der Syrer zugerechnet werden. Alawiten dominierten die herrschende Klasse und die oberen Ränge des syrischen Militärs unter den Assads, die von 1970 bis 2024 das Land regierten.

Nun geben sich alle entsetzt, auch jene, die den Sieg der Islamisten im vergangenen Jahr bejubelten und überhaupt erst ermöglichten. Selbst die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) meldete am Sonntag, die Gewalt gegen Alawiten in Syrien sei „außer Kontrolle“ geraten. Das würde eigentlich zu der Frage führen, ob vorher die Gewalt der herrschenden Islamisten gegen Andersgläubige und Minderheiten „unter Kontrolle“ war, die aber nicht gestellt wird. Das hatten sich jene im Westen gewünscht, die den Siegeszug der islamistischen Terror-Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), hervorgegangen aus der terroristischen Al Nusra-Front als Zweig von Al Qaida, und den Sturz von Präsident Bashar al Assad im Dezember 2024 als „fundamentalen Akt der Gerechtigkeit“ (Joseph Biden), „gute Nachricht“ (Olaf Scholz) und „ein erstes großes Aufatmen nach einer Ewigkeit der Gräuel des Assad-Regimes“ (Annalena Baerbock) begrüßten.

So unerträglich und verabscheuungswürdig die Gewalt ist, so abstoßend sind die heuchlerischen Krokodilstränen jener im Westen, die fast 13 Jahre lang alles dafür taten, den syrischen Präsidenten Assad zu stürzen. Nun fordern sie die Übergangsregierung in Damaskus auf, „weitere Übergriffe zu verhindern, die Vorfälle aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“, wie unter anderem das Auswärtige Amt am Sonntag erklären ließ. Dabei waren es allen Informationen nach die Truppen dieser neuen Machthaber in Syrien, die die Verbrechen begingen und begehen, in Uniform, und nicht irgendwelche versprengten Milizen. Sie mordeten und folterten im Rahmen einer offiziellen „Militäroperation“ gegen Aufständische.

Es scheint ein planmäßiges und organisiertes Vorgehen gewesen zu sein, nachdem alawitische Kämpfer Anfang März begannen, vor allem in den Städten Latakia, Tartus und Homs militärische Kräfte der neuen Machthaber zu attackieren. Dem vorausgegangen waren anhaltende Angriffe der Islamisten auf die Alawiten, denen der gestürzte Präsident Assad entstammte. Dabei hatte der syrische Übergangspräsident Ahmed al-Scharaa nach der Machtübernahme im Dezember 2024 versprochen, dass die neue Führung des Landes eine politische Zukunft für Syrien schaffen werde, die alle Gemeinschaften des Landes einschließt und repräsentiert.

Bestätigte Befürchtungen

Vor allem unter den Alawiten seien Angst und Schrecken weit verbreitet, sagte ein Bewohner laut eines Berichtes der Nachrichtenagentur DPA. Demnach habe es „viele Übergriffe und Tötungen aufgrund der Religionszugehörigkeit“ gegeben. Die syrische „Beobachtungsstelle für Menschenrechte“ in London habe von Massakern in 29 Orten der Gouvernements Latakia, Tartus, Hama und Homs berichtet und Kämpfern der islamistischen Übergangsregierung Kriegsverbrechen vorgeworfen.

Außer wohlfeilen Aufrufen aus westlichen Hauptstädten, wo die Verantwortlichen für die syrische Katastrophe sitzen, ist von dort nichts weiter zu vernehmen. Keine Außenministerin Baerbock reist nach Syrien und stellt sich jenen Islamisten in den Weg, denen sie noch im Januar bei ihrem „unbeholfenen“ Besuch (taz) die Hand schütteln wollte. Nur die russischen Truppen in Syrien versuchten, konkret zu helfen und öffneten ihre Luftwaffenbasis Hmeimim in der Provinz Latakia, um flüchtende Alawiten und andere Zivilisten aufzunehmen.

Doch die Möglichkeiten der russischen Basis sind begrenzt und Sicherheit für die inzwischen mehr als 8.000 geflüchteten Menschen scheint nicht in Sicht. Während Tausende von Menschen vor dem Terror fliehen, suchen die neuen syrischen Behörden nach Sündenböcken für die Massaker. Übergangspräsident und HTS-Anführer Ahmed al-Scharaa – als Abu Mohammed al-Dscholani ein gesuchter Terrorist – erklärte Berichten nach, die Morde an religiösen Minderheiten seien „von Assad-Anhängern“ und einem bestimmten „ausländischen Staat“ angestiftet worden.

Das aktuelle Geschehen bestätigt alle Befürchtungen, dass der Sturz Assads im Dezember 2024 Syrien nicht die erhoffte „lichte Zukunft“ bringen wird, sondern nur weiteren Tod und Zerstörung, neben dem Ausverkauf und der Aufteilung durch die Staaten, die seit 2011 darauf hinarbeiteten. Im Dezember 2024 hatte der brasilianische Journalist Pepe Escobar in einem Text geschrieben:

„Sultan Erdogan, der die Rolle des nützlichen Sündenbocks spielt, hat verkündet: Eine ‚glänzende Zeit‘ für Syrien habe begonnen. In der Tat. Eine glänzende Zeit für die Kopfabschneider der Schwarzen Flagge, die Bombenleger von Tel Aviv und die Landräuber, die sich am Kadaver Syriens laben.“

Israelische Beteiligung

Er erinnerte auch daran, dass sich Israel aktiv an der Aufteilung Syriens beteiligt, nachdem es Berichten nach die Islamisten bei deren Vorbereitungen auf den Sturz Assads unterstützte. Die israelische Luftwaffe hatte im Dezember 2024 über 350 Angriffe gegen die gesamte militärische Infrastruktur der ehemaligen Syrischen Arabischen Armee (SAA) geflogen und diese vollständig zerstört: Waffenfabriken, Munition, Stützpunkte, Kampfjets, einschließlich des Luftwaffenstützpunkts Mezze in Damaskus, russische Schiffsabwehrsysteme, Schiffe selbst (in Lattakia, in der Nähe des russischen Marinestützpunkts) und Luftverteidigungspositionen.

„Dies ist die NATO/Israel-Kombination, die das ehemalige Syrien entmilitarisiert – ohne dass irgendjemand in der arabischen Welt und den Ländern des Islam auch nur einen Mucks von sich gibt, angefangen bei den Black-Flag-Killern, die Damaskus eingenommen haben“,

kommentierte das Escobar.

Umso verlogener ist es, wenn israelische Regierungsvertreter sich jetzt hinstellen und wie Außenminister Gideon Sa’ar (Neue Hoffnung) europäische Politiker für deren Umgang mit den neuen syrischen Machthabern kritisieren. Europa dürfe „die Realität nicht verkennen“ und müsse seine Stimme gegen die Massaker und „gegen den barbarischen Mord an Zivilisten“ erheben, erklärte gerade der Vertreter des Landes, das selbst einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser führt und dabei einen Völkermord begeht. Israels Politik gegen Syrien, einschließlich militärischer Angriffe und territorialer Annexionen wie der Golanhöhen, sieht Escobar als Teil eines größeren kolonialen Projekts, das darauf abziele, Israels Einfluss auszuweiten und die „Achse des Widerstands“ zu schwächen, zu der auch der Iran, Syrien, und die Hisbollah gehören.  

Die israelische Führung gehört genauso auf die Anklagebank wie jene westlichen Politiker, die seit 2011 einen verdeckten Krieg gegen Syrien führten, indem sie die Unruhen im Zuge des „Arabischen Frühlings“ für ihre Interessen ausnutzten. Das Land fiel im Dezember 2024 innerhalb von zehn Tagen an die Dschihadisten – was zuvor in einem jahrelangen Krieg verhindert wurde. Doch genau dieser Krieg, gefördert, finanziert und unterstützt vom Westen, gegen das einst säkular orientierte arabische Land hat es nun in die Knie gezwungen. Weil es dadurch ausgezehrt und geschwächt wurde sowie Territorien wie die Islamistenhochburg Idlib und die von Kurden beherrschten nordsyrischen Gebiete sowie die von den USA besetzten Ölfelder nicht mehr unter Kontrolle der Regierung in Damaskus waren. Und weil die westlichen Wirtschaftssanktionen im Namen von „Demokratie“ und „Menschenrechten“ verhinderten, dass das Land sich wirtschaftlich wieder erholen kann.

Im September 2016 war dazu in einem Beitrag des Onlinemagazins The Intercept zu lesen, dass die von den USA und der EU verhängten Sanktionen gegen Syrien die schlimmste humanitäre Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht haben. Das Portal berief sich dabei auf einen UN-Bericht. Demnach beeinflussten die Sanktionen vor allem die syrische Bevölkerung negativ und erschweren die Arbeit der Hilfsorganisationen. Der 40-seitige Uno-Bericht bezeichnete die US-amerikanischen und europäischen Maßnahmen gegen Syrien als „das komplizierteste und weitreichendste Sanktionsregime, das jemals verhängt wurde“. Die antisyrischen Sanktionen hätten maßgeblich die Wirtschaft des Landes destabilisiert, wobei sie ein selbstversorgendes Land in eine hilfsbedürftige Nation verwandelten.

Westliche Mittäter

Der Krieg in Syrien seit 2011, angeführt und massiv unterstützt von einer breiten Koalition des US-geführten Westens und arabischer Staaten sowie umgesetzt von islamistischen „Rebellen“, allen voran die Muslim-Bruderschaft und ihre Ableger, sollte das Land wie zuvor Libyen schwächen und zerstören. Es ging von Anfang an um einen regime change. Dazu gehörte die deutsche politische und mediale Kriegshetze gegen Syrien, ein Land, das der EU vor dem „Arabischen Frühling“ als möglicher Partner galt und mit dem unter anderem 2004 ein Assoziationsabkommen für die geplante „Europa-Mittelmeer-Partnerschaft“ vereinbart wurde.

Als ein Regimewechsel in Damaskus in Aussicht stand, war die Bundesregierung in Berlin nicht nur ganz schnell dabei, sich an den Planungen für eine Zeit ohne Bashar al-Assad zu beteiligen. Sie war von Anfang an Mittäter in dem Krieg, der Syrien zerstörte. Selbst die Bundeswehr war daran beteiligt, die sogenannten Rebellen zu unterstützen:

„Ein Spionageschiff der Deutschen Marine kreuzt nach Zeitungsinformationen vor der syrischen Küste, um die dortigen Rebellen für ihren Kampf gegen Machthaber Baschar al-Assad gezielt mit Informationen zu versorgen“,

wurde im August 2012 gemeldet.

Die bundesdeutsche Regierung ist daran mitschuldig, dass ein Land zerstört wurde, das sich unter anderem durch eine „Geschichte des Zusammenlebens über ethnische, konfessionelle und politische Trennlinien hinweg“ auszeichnete, wie es der Nahostwissenschaftler Volker Perthes in seinem Buch „Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen“ 2015 beschrieb. Die „Anerkennung dieser gesellschaftlichen und konfessionellen Vielgestaltigkeit“ sei „eines der Charaktermerkmale, ja vielleicht ... die Raison d'etre gerade des syrischen Staates“ gewesen, so Perthes.

Der deutsche Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel hatte 2013 in der FAZ bemerkenswert festgestellt: „Der Westen ist schuldig“. Er fragte:

„Wie hoch darf der Preis für eine demokratische Revolution sein? In Syrien sind Europa und die Vereinigten Staaten die Brandstifter einer Katastrophe. Es gibt keine Rechtfertigung für diesen Bürgerkrieg.“

Was in Syrien geschah, sei dem Anschein nach die mildere Form des Regimewechsels, „da sie den Sturz des Regimes dessen innerer Opposition überlässt, die von außen nur aufgerüstet – und freilich auch angestiftet – wird“. Merkel bezeichnete sie als „die verwerflichste Spielart: nicht so sehr, weil sie neben dem Geschäft des Tötens auch das Risiko des Getötetwerdens anderen zuschiebt. Eher schon, weil sie die hässlichste, in jedem Belang verheerendste Form des Krieges entfesseln hilft: den Bürgerkrieg.“ Schon 2012 war in der Online-Ausgabe des Magazins Der Spiegel zu lesen „Wie der Westen in Syrien heimlich Krieg führt“. Der Westen sehe nicht tatenlos zu, hieß es in dem Bericht, der Markus Kaim von der regierungsfinanzierten Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zitierte:

„Man kann inzwischen von einem militärischen Engagement sprechen.“

Alte Erkenntnisse

An all das muss erinnert werden, wenn gefragt wird, wie es zu den jüngsten Massakern in Syrien, die Kriterien des Völkermords erfüllen dürften, kommen konnte. Escobar fragte im Dezember 2024 auch: „Wird der Westen sich erheben, um die verbliebenen syrischen Christen zu verteidigen, wenn die Schwarzen Flaggen kommen, um sie zu beseitigen?“ Seine eigene Antwort, die jüngsten Ereignisse vorwegnehmend: „Natürlich nicht. Der Westen ergötzt sich am Ende des ‚Diktators‘, während Schwarze Flaggen und Geier des Alten Testaments ihren Vampirball über der Leiche einer Nation abhalten.“

Unter diesen Bedingungen ist das Leben der Syrer schwieriger, bloß nicht besser geworden, seitdem Präsident Assad gestürzt wurde und nach Moskau floh. Das zeigt ein aktueller Bericht der Nahost-Korrespondentin Karin Leukefeld auf den NachDenkSeiten. Sie ist gerade wieder in der Region und beobachtet wie seit Jahren schon das Geschehen vor Ort. Das ist beeinflusst von den Interessen zahlreicher externer Akteure, wie sie auch deutlich macht, bis hin zu Russland, dass seine beiden Militärstützpunkte in Syrien halten möchte.

Der Nahost-Experte Michael Lüders hatte 2017 in seinem Buch „Die den Sturm ernten“ beschrieben, „Wie der Westen Syrien ins Chaos stürzte“, so der Untertitel. Darin beschrieb er unter anderem das Interesse vor allem der US-Regierung an „gemäßigten Dschihadisten“. Als solcher wurde HTS-Chef al-Scharaa alias al-Dscholani Ende 2024 auch immer wieder in westlichen Medien dargestellt. Lüders hatte festgestellt, dass „den regime change in Syrien offenbar Dschihadisten besorgen“ sollen. Und:

„Der damit einhergehende Pragmatismus ist bemerkenswert: Egal, unter welchem Namen diese Dschihadisten auftreten – in der Sache unterscheidet sie nichts von Al-Qaida oder dem ‚Islamischen Staat‘."

Er machte auch auf die Nusra-Front, die heute in Syrien an der Macht befindliche HTS, aufmerksam, deren Kämpfer „mit äußerster Brutalität gegen ihre Widersacher“ vorgehen würden. Ideologisch passe „kein Blatt Papier zwischen den IS und die Nusra-Front oder irgendeine andere der Dschihad-Fraktionen“. Sie seien „Rivalen im Kampf um die Macht und folgten einem unterschiedlichen Beuteschema – nicht mehr und nicht weniger“, schrieb Lüders, der auch auf „Washingtons Waffenbruderschaft“ mit den Terroristen hinwies. Und er erinnerte:

„Ohne den Krieg gegen den Terror, den Regimewechsel im Irak und den angestrebten Regimewechsel in Syrien hätte es diesen enormen Zuwachs an gewaltbereiten Islamisten nicht gegeben.“

Die jüngsten Ereignisse in Syrien haben das bestätigt und die wahre Fratze der „gemäßigten“ Dschihadisten wieder deutlich gezeigt. Die Opfer der Massaker gehen auch auf das Konto der Regierenden und Herrschenden in den westlichen Hauptstädten. Ihre verlogene und demagogische Doppelmoral ist nicht minder verabscheuungswürdig wie die Gräueltaten der Dschihadisten, die neuerdings in Syrien im Anzug vor die Kameras treten.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Shutterstock AI / shutterstock


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