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Mein Leben als Monster

Mein Leben als Monster


Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Mir fällt eine Geschichte ein, die immer noch geeignet ist, mir die Schamröte ins Gesicht zu treiben? Die aber auch einen wichtigen Wendepunkt in meinem Leben bezeichnet und mich überdeutlich spüren lässt, in welch schreckliche Solidargemeinschaft ich auf Dauer geraten wäre, wenn eine innere Instanz nicht die Lehren aus ihr gezogen hätte, um mich neu aufzustellen.

Die Geschichte ist schnell erzählt, sie spielte im Gymnasium am Ratsmühlendamm in Hamburg-Fuhlsbüttel, in der Obertertia (9. Klasse), um genau zu sein. An diesem Morgen bekamen wir einen neuen Klassenlehrer, der uns zur Begrüßung durch seine verspiegelte Sonnenbrille musterte. Ziemlich lange, wie ich fand.

„Gut,“ sagte er schließlich, „wir müssen es ja noch eine Weile aushalten miteinander. Deshalb schlage ich vor, dass ihr mir von euch berichtet. Ihr werdet mir morgen einen Aufsatz mit dem Titel WER BIN ICH? vorlegen. Die guten wie die schlechten Eigenschaften, ihr wisst schon. Dabei sollt ihr durchaus selbstkritisch mit euch umgehen. Verstanden?“

Wir murmelten zustimmend. Der Mann selbst (ich habe seinen Namen noch im Kopf) stellte sich uns nicht vor. Später erfuhr ich, dass er im Dritten Reich Schulleiter in Hamburg gewesen war, ein hohes Tier also. Aufgrund des Lehrermangels hatte man ihn nach dem Krieg in den Schuldienst zurück geholt, wo er seitdem als einfacher Klassenlehrer Dienst tat.

Am nächsten Tag sammelte der Dr. (er bestand auf dieser Anrede) unsere Aufsätze ein, um sie zu Hause auszuwerten. Meine drei Seiten bestanden hauptsächlich aus üblen Selbstbezichtigungen, die bei weitem nicht alle stimmten, aber aufgrund meines Bekennermuts sicher Anerkennung finden würden. Ich hatte mich als jemand beschrieben, der zu Hause wie im Unterricht häufig gelangweilt und daher unaufmerksam ist, der in der Familie beständig Streit sucht, sich gerne mit Freunden prügelt, beim Zigarettenhändler Kaugummi klaut, Mädchen schon mal einen Negerkuss ins Haar klebt und noch einige andere Nuancen eines nicht sehr liebenswerten Charakters mehr. Vorauseilender Gehorsam nennt man das. Meine Mitschüler müssen auf ähnliche Weise versucht haben, sich beim neuen Lehrer einzuschleimen. Jedenfalls saßen wir am nächsten Tag wie ein durch Selbstkasteiung geschundener Haufen vor dem Nazi mit der verspiegelten Brille, als der die Hefte aus der Aktentasche klaubte und sie sorgfältig vor sich auf dem Pult stapelte.

„Ich bin erstaunt, wie offen und ehrlich, wie mutig sich die meisten von euch beschrieben und offenbart haben,“ sagte der Mann. „Das hat mich überrascht. Angenehm überrascht.“ Es war nicht nur zu spüren, sondern auch zu hören, wie sich die Erleichterung in der Klasse über den Atem Bahn brach. Wir saßen wieder aufrecht und das tat gut. Der Dr. nahm das oberste Heft vom Stapel, hielte es mit theatralischer Geste in die Luft und sagte:

„Aber leider hat nicht jeder hier im Raum die Aufgabe verstanden!“

Er riss ein Blatt Papier aus dem Heft und hielt es mit spitzen Fingern hoch. Soviel ich sehen konnte, war es lediglich mit einer Zeile beschriftet.

„Dieser Aufsatz – darf man es so nennen? – stammt von einer gewissen Marita Bernstein. Wo sitzt sie? Aha da. Darf ich ihn vorlesen, Frl. Bernstein? Danke. Dauert nicht lange, dein Aufsatz ist ja kurz und bündig. Hier steht also folgendes, hört genau zu: ICH FINDE MICH GUT SO, WIE ICH BIN!“

Der Dr. nahm die Sonnenbrille ab und blickte die schöne Marita verächtlich an. Sie saß hinten, ganz hinten an der Wand. Und wir alle drehten uns nach ihr um. Wir alle setzten einen hämischen, empörten Gesichtsausdruck auf, als hätten wir die Vollmacht erteilt bekommen, über sie zu richten. Ich war auch dabei, ich hatte mich auch umgedreht und zu Marita hinüber geglotzt, die mit feuchten Augen einen nach dem anderen von uns betrachtete. Schließlich stürzte sie aus der Klasse. Wie hörten sie im Flur einen lauten Schrei ausstoßen. Ich kann ihn noch immer hören. Er entsprang der Verzweiflung, von feigen Arschkriechern wie uns an den Schandpfahl gestellt worden zu sein. Sich alleine wiederzufinden unter seelenlosen, manipulierten Monstern, denn solche waren wir für sie an diesem Tag. Ich auch.

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Master1305 / Shutterstock.com


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