In einer Trickfilmreihe aus der Sowjetunion steckt alles drin, was den großen Nachbarn im Osten liebenswert macht.
Ein Standpunkt von Michael Meyen.Tom und Jerry? Okay, klar. Road Runner und Wile E. Coyote? Warum nicht. Diese US-Klassiker wurden seinerzeit auch in Moskau gesehen — und dann übertroffen. Die Serie „Hase und Wolf“, gedreht ab 1969, ist mehr als ein Aufguss des Rezepts aus dem Westen. Musik, Ideenreichtum und Lebensgefühl: Wer nach einem Zugang zur russischen Seele sucht, muss nur wieder zum Kind werden und dabei lernen, dass man nicht einmal die Sprache des anderen sprechen muss, um ihn zu verstehen.
Sie wissen nicht, wie man bei Deutschen über 40 ruck, zuck herausfinden kann, ob sie aus dem Osten sind? Das Zauberwort heißt „Nu, pagadi“. Oder noch besser: Hase und Wolf. Wer mit dem Zauberwort antwortet, hat sich enttarnt. Für die Jüngeren und für fast alle aus dem Westen: Ich schreibe hier über eine Zeichentrickserie. 16 Folgen, gedreht zwischen Ende der 1960er- und Ende der 1980er-Jahre in Moskau. Auf meiner DVD ist noch ein wenig mehr, entstanden nach dem Ende der Sowjetunion, aber das ist nicht mehr das Gleiche, auch wenn es genauso heißt. Albern, voller Schleichwerbung, billig. In einem Wort: verwestlicht.
Meiner Enkelin, die in diesem Sommer drei wird, mag ich das nicht zeigen. Dieses Kind liebt den Hasen und noch mehr den Wolf — eine Figur, die ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel hat und trotzdem unglaublich erfrischend ist mit ihrem ewigen Wunsch, den Hasen endlich zu fangen und zu verspeisen, mit Erbsen, versteht sich. Sorry. Das war ein Insider aus Folge eins. In der allerersten Szene sieht der Wolf, schlampig angezogen und in jeder Hinsicht ein Kleinkrimineller, den Hasen auf einem Balkon und stellt sich vor, was zwei oder drei Stunden später passieren könnte. Ein Braten auf einem feinen Teller. Dazu kommt es dann nicht. Dazu kommt es nie. Sein Gegenspieler ist ein Hase im Glück, der nur selten etwas tun muss, um dem Unheil zu entgehen, obwohl der Wolf ein Multitalent ist. Abfahrts- und Eiskunstlauf, Turnen, Tanzen, Musizieren und vor allem Rasen mit Fahrzeugen jeder Bauklasse: Es gibt fast nichts, was er nicht kann. Nur den Hasen, den kriegt er nicht.
Natürlich: Wir haben auch die Klassiker von Walt Disney daheim. Bambi. Dumbo. Susi und Strolch. Wir legen das hin und wieder ein, obwohl wir wissen, dass die Enkelin eigentlich den Wolf sehen will und dabei auch viel länger durchhalten würde. Sozialismus schlägt Kapitalismus, zumindest auf diesem Feld, und das trotz Sprachbarriere. Es wird nicht viel gesprochen beim Hasen und beim Wolf. Wenn, dann russisch. Dafür regiert hier die Anarchie. Es passieren Dinge, die nicht passieren können oder dürfen und Kinder gerade deshalb faszinieren.
Strolch dagegen, der freie Hund aus dem freien Amerika, ist am Ende glücklich, als er eine Steuermarke bekommt. Schließlich muss alles seine Ordnung haben. Der Wolf und eine Steuermarke? Undenkbar. Dieser Wolf qualmt wie ein Schlot, nimmt Kleineren alles weg, was er selbst gerade braucht, und schubst zur Not auch alle von der Bank, wenn er dort sitzen will.
Eltern und Großeltern aller Länder, schaut zurück in die Sowjetunion! Wenn es darum ging, die Jüngsten zu unterhalten, konnte dort alles zu Bruch gehen — zumindest in der Fantasiewelt eines Animationsfilms.
Ich weiß nicht mehr genau, wann und wo ich Hase und Wolf kennengelernt habe. Vermutlich in „Alles Trick“, einem Format im DDR-Fernsehen, das in 30 Minuten ein Potpourri geboten hat. Lolek und Bolek aus Polen. Adolar aus Ungarn. Auch nicht schlecht. Immerhin so gut, dass ich das nicht vergessen habe. Der Wolf hat sie aber alle in den Sack gesteckt.
Als Kind habe ich gegrübelt, ob man tatsächlich ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springen und einfach die Schirme der anderen nutzen kann, um wie auf einem Trampolin durch die Luft zu hüpfen, bis man den Hasen wieder von oben sieht. Noch ein Spoiler: Der Wolf ist dann doch schneller unten, landet in einem Hühnerstall und wird vom Hahn verprügelt. Dazu gibt es flotte russische Musik, wie in jeder Szene. Kasatschok und Katjuscha, aber auch das, was sich die Klassiker ausgedacht haben oder was gerade im Sowjetradio rauf und runter lief und deshalb manchmal auch in der DDR.
In die Sowjetunion hat mich ein Freundschaftszug gebracht. Minsk, Moskau, Leningrad. Mit 14 war ich der Jüngste in der ganzen Delegation und fasziniert von Krimsekt und älteren Mädchen. Für Hase und Wolf war da kein Raum. Ich weiß noch, wie wir auf dem Roten Platz an einer elend langen Schlange vorbeimarschieren durften, um nicht ewig auf Lenin warten zu müssen. Hinterher habe ich gesehen, wie Frauen vor dem GUM Schuhe getauscht haben. Das Kaufhaus war zwar auch seinerzeit schon berühmt, hatte aber trotzdem nicht viel zu bieten. Jeder nahm das, was ihm in die Hände fiel, und hoffte dann, vor der Tür etwas Passendes dafür zu bekommen.
Es hat dann fast drei Jahrzehnte gedauert mit meiner zweiten Reise nach Moskau. Ab den späten Nullerjahren war ich dort jedes Jahr an der Fakultät für Journalistik. Vorträge und Seminare, Tagungen, Interviews mit Zeitzeugen, Kollegenbesuche. Später kam Sankt Petersburg dazu, wenn auch bei Weitem nicht so häufig.
Einmal habe ich eine Gruppe Studenten aus München mitgenommen. Wir durften auf den Leninbergen wohnen, die heute Sperlingsberge heißen, im Hauptgebäude der Lomonossow-Universität. Eine der Zuckerbäckerburgen aus der Stalin-Zeit. Es hat gedauert, bis wir den Ausweis in der Hand hatten, ohne den man nicht an den Wachen vorbeikam. Auf der Studentenetage saß eine ältere Dame, die aufgepasst hat, dass sich kein Dozent im Zimmer irrt. Dafür hatte ich mehr Klopapier und sogar einen Fernseher.
Warum ich das alles erzähle? Ich mag Russland und die Russen. Mit meiner Frau bin ich tagelang durch die Wälder Sibiriens gefahren, erst bis nach Irkutsk, wo es selbst 2018 noch einen Marx-Platz gab und eine Lenin-Straße oder andersherum, und dann über die Mongolei weiter bis nach Peking.
Alle vier Stunden konnten wir nach den Großmüttern suchen, die auf jedem Bahnhof Kartoffelpuffer verkauft haben, eingelegte Gurken oder eine andere Delikatesse. Dass man suchen musste, haben uns die Einheimischen mit Putin erklärt, der diesen Handel eigentlich verbieten wollte und überall Einheitskioske bauen ließ, aber an der Findigkeit der Omas und ihrer Kunden scheiterte. Glaubt man diesen Zeugen, dann hat Putin auch den Alkohol aus den Zügen verbannt. Wir sind in Moskau ohne Flasche eingestiegen, weil wir sicher waren, uns vor Ort versorgen zu können, und mussten dann lange auf das erste Bier warten. Schnaps hatten wir erst auf der Weiterfahrt von China nach Pjöngjang.
Eine Wiederholung war fest eingeplant. Die Geschichte hat es anders gewollt. Erst Corona, dann der Krieg. Oder umgekehrt. Hase und Wolf sind etwas für die Sehnsucht. Gorki-Park, Olympiastadion und riesige Neubaugebiete ohne Gesicht, die Birkenwälder vor den Toren Moskaus und das Neujahrsfest mit Djed Moros und Snegurotschka, die ellenlangen Rolltreppen in der Metro und der Fernsehturm Ostankino. Alles drin in dieser Serie. Hase und Wolf sind auch etwas für die Nostalgie. So viel Sowjetunion muss man erst mal finden. Kwas-Automat, O-Bus und vor allem gelangweiltes Personal, das zwar irgendwie zuständig ist für irgendwas, aber lieber schläft. So war das im Sozialismus, zumindest in meiner Erinnerung.
Das Russland von heute mag offenbar nicht alles an der Serie. Eine Kollegin, die dort aufgewachsen ist, hat mir erzählt, dass sogar über ein Verbot nachgedacht wurde. Ein rauchender Wolf sei den Kindern nicht mehr zuzumuten. Vielleicht ist auch einfach nur sein Schlachtruf aus der Zeit gefallen: „Nu, pagadi!“ heißt auf deutsch „Na warte!“.
+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 30. Juni 2023 bei manova.news +++ Bildquelle: marketa1982/ shutterstock
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