Ein Beitrag von Alexander Boos.
„Die Ukraine soll ins westliche Lager geholt werden“,
sagt Politikwissenschaftler Ullrich Mies. Im SNA-Interview spricht er über „Provokationen gegen Russland“ und vergleicht das aktuelle Vorgehen der russischen Streitkräfte mit dem Syrien-Einsatz. Außerdem kritisiert er die deutsche Außenpolitik: „Linke Parteien sind mittlerweile auf Nato-Linie“.
„Die systematischen Sticheleien, die Hetze in den westlichen Medien gegen Russland und Präsident Wladimir Putin sind seit gut zwölf Jahren Legion.“
Das erklärt Buchautor, Politologe und Nato-Kritiker Ullrich Mies im SNA-Interview mit Blick auf die aktuelle Ukraine-Krise. Er ist u. a. Herausgeber und Autor des Buches „Der tiefe Staat schlägt zu: Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet“, das 2019 erschien.
Der Nato-Politik und den westlichen Medien werfe er insbesondere vor, „dass sie all das permanent unterschlagen, was die aktuelle russische Politik erklärt.“ Darunter „hunderte Alliierten- und/oder Nato-Militärmanöver zu Lande, zur Luft und zur See, die sich eindeutig gegen Russland richteten.“ Dazu würden zahlreiche Sanktionen „als Mittel der Kriegsführung“ und andere Maßnahmen die feindlichen Akte gegenüber Russland komplettieren, wie Mies sie charakterisiert.
„Dauerstress und Beschuss“: Donezk und Lugansk
Vor diesem Hintergrund kam die Intervention Russlands in der Ukraine für Mies keinesfalls überraschend. Ob dieser Militäreinsatz ein besonders intelligenter Akt war, sei allerdings dahingestellt, betont er.
Die andere Frage sei jedoch für ihn:
„Hatte Putin nach gut 25 Jahren feindlicher Akte des Westens gegen Russland nicht den Kanal endgültig voll? Für mich ist klar, dass die westlichen Geheimdienste und ihre Einflussagenten – maßgeblich die der USA – in der Ukraine die russland-freundlichen Gebiete Donezk und Lugansk immer wieder unter Stress oder sogar unter militärischen Dauerbeschuss setzen, um russische Reaktionen zu provozieren: Und genau da stehen wir heute.“
Hätte Moskau tatenlos zugesehen, vermutet der Politologe, so fände wahrscheinlich momentan in der Ukraine „ein ganz ähnliches Destabilisierungsmuster“ statt wie Ende der 1990er Jahre in Jugoslawien. „Mit katastrophalen Folgen für die Bewohner selbst, aber auch für Russland durch endlose Flüchtlingsströme“. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR sprach vor wenigen Tagen von momentan etwa 100.000 ukrainischen Flüchtlingen, und mit deutlich mehr Menschen auf der Flucht wird gerechnet, wie UN-Generalsekretär Antonio Guterres warnte.
„Chirurgischer Eingriff“: Parallelen zwischen Ukraine und Syrien?
Die Frage, ob der russische Militäreinsatz in der Ukraine ein ähnlicher – im zynischen Militärjargon gesprochen – „chirurgischer Eingriff“ gewesen sei, wie die Intervention der Streitkräfte Russlands in Syrien ab 2015, beantwortet Mies wie folgt:
„Das sehe ich genauso. Aber das Hauptziel dieser Intervention Moskaus in der Ukraine ist wohl, dem Westen klar zu zeigen, dass die kriegerischen und terroristischen Akte der westlichen Geheimdienste nun an ihr Ende gekommen sind und weitere feindliche Akte gegen Russland nicht mehr länger hingenommen werden.“
„Wünschenswert wäre eine neutrale Ukraine“
Nachdem die erste Verhandlungsrunde zwischen russischen und ukrainischen Emissären keine substanziellen Ergebnisse brachte, sollen die Verhandlungen in den nächsten Tagen fortgesetzt werden, um eine politische Lösung der Krise zu erzielen. Ullrich Mies erwarte von diesen Gesprächen, „relativ wenig, so nötig sie auch sind“. Einfach, weil sich an den grundlegenden geopolitischen Interessenkonstellationen durch diese Verhandlungen gar nichts ändere, konstatiert der Politologe. „Sehr wünschenswert wäre eine neutrale Ukraine“, schlug er vor.
„Einer solchen Konzeption würden die USA niemals zustimmen. Da, wie Zbigniew Brzezinski es sagte, die Ukraine der Dreh- und Angelpunkt ist, um Russland zu destabilisieren mit dem Ziel, das Land in die westliche Herrschaft einzugliedern und seine Ressourcen ausplündern zu können.“
Warum verhält sich Nato so zurückhaltend?
Zwar habe der Westen in den vergangenen Jahren Milliarden US-Dollar und unzählige Waffen in die Ukraine gepumpt, empört sich Mies, aber gleichzeitig sagten Nato-Führung und US-Regierung Wochen vor Beginn der Kampfhandlungen am 24. Februar, die Allianz werde Kiew nicht direkt unterstützen und keinesfalls Nato-Truppen auf ukrainisches Territorium schicken.
„Vielleicht haben diese Figuren endlich kapiert, dass sie in einem Atomkrieg selbst verbrennen werden“,
antwortete Mies auf die Frage, wie dies zusammenpasse. Das wirklich Erschütternde sei für ihn allerdings, dass Deutschland mittlerweile über eine politische Kaste verfüge,
„die weder aus der Geschichte gelernt hat, noch bereit ist, massive Schäden vom eigenen Land und der eigenen Bevölkerung abzuwenden. In diesem Kontext ist die Kündigung oder besser gesagt das auf Eis legen von Nord Stream 2 eine absolute Kapitulation der deutschen Außenpolitik insofern, als nun die Energiepreise steigen werden.“
Doch genau dies sei das Ziel der USA, „um ihr umweltschädliches Fracking-Gas, das bisher vollkommen überteuert war, nunmehr in Deutschland zu verklappen“, gibt sich der Buchautor überzeugt.
Rolle von Nato-Staaten wie Deutschland
Die gegenwärtige Ukraine-Krise sei auch möglich gewesen, glaubt Mies, weil sich in der Bundesrepublik Sozialdemokratie und die Linke immer mehr Nato-Positionen angenähert hätten.
„Die gesamte deutsche politische und mediale Landschaft ist damit weitgehend transatlantisch gleichgeschaltet und befindet sich am Vorabend eines möglicherweise großen Krieges der im Falle des Ausbruchs selbstverständlich für Zentral-Europa verheerend wird.“
Er sehe durchaus Parallelen zur „verheerenden sozialdemokratischen Außenpolitik vor dem Ersten Weltkrieg“ und zur damaligen Gewährung von Kriegskrediten im Hinblick auf den jetzt von Kanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigten 100-Milliarden-Fonds für die Bundeswehr, von dem vor allem die Rüstungsindustrie profitieren werde, erzürnt sich Mies.
„Die aktuelle deutsche Regierung führt lediglich die erbärmliche und im Kern Deutschland-feindliche Politik der Merkel-Regierung fort“,
kritisiert der Politologe.
„Und ich befürchte – ich übertreibe nicht – sie ist die erbärmlichste Regierung der deutschen Nachkriegsgeschichte überhaupt, die im Rahmen des Corona-Regimes Krieg nach innen gegen die eigene Bevölkerung führt und im Rahmen der Anti-Russland-Politik die katastrophale Außenpolitik der westlichen Allianz nach außen fortschreibt.“
Die deutsche Außenpolitik war laut Mies am Zerschlagungsprozess Jugoslawiens
„maßgeblich beteiligt und hat sich hier von oben bis unten mit Blut bekleckert. Das Finale des Zerstörungsprozesses war die Bombardierung Belgrads im Jahre 1999, die Errichtung von Camp Bondsteel als einem der größten US-Militärstützpunkte in Europa und schließlich die Aufnahme von Albanien und Kroatien im Rahmen der Nato-Osterweiterung 2009.“
„Nach der Wende hätte sich die Welt in Richtung Frieden entwickeln können“
Ohne Rückblick auf die zeitgeschichtliche Entwicklung der letzten 30 Jahre lasse sich der Konflikt in der Ukraine überhaupt nicht verstehen, betonte der Nato-Kritiker. Noch zu Zeiten der UdSSR hätte Moskau „bereits hinreichende Erfahrung mit der US-Strategie in Afghanistan gemacht“, der damalige US-Sicherheitsberater Brzezinski „war ja entschlossen, der Sowjetunion dort ‚ihr Vietnam‘ zu bescheren“, erinnert sich Mies. Erfolgreich, wie wir inzwischen wissen. Die Folge dieses Zusammenbruchs seien dann die „schönen, westlich orientierten“ Jelzin-Jahre gewesen, die zu einem sozialen Chaos innerhalb Russlands führen und die ökonomischen Grundlagen des Landes zerrütten sollten, ist er überzeugt. Nach der Wende 1989/90 hätte sich die Welt in Richtung Frieden, Freiheit, Menschenwürde und eine vielversprechende Zukunft entwickeln können, blickt Mies zurück.
„1991 löste sich die Warschauer Vertragsordnung als Militärpakt des Ostblocks auf. Zu Beginn der 90er Jahre kamen die Konfrontations- und Kriegsfalken in den USA (bereits mit Unterstützung deutscher Transatlantiker wie Ex-Bundesverteidigungsminister Volker Rühe) jedoch zu dem Ergebnis, die Nato keinesfalls aufzulösen.“
Im Gegenteil: Das transatlantische Bündnis sollte nach Osten ausgedehnt werden, „um alle bisherigen Satellitenstaaten der früheren UdSSR in ihre geopolitische Interessensphäre einzugliedern.“ Im Ergebnis seien die vielfältigen Nato-Erweiterungsschritte 1999, 2004, 2009, 2017, 2020 sowie „die Orchestrierung von Regime-Changes in Georgien 2008 und der Ukraine 2014/Maidan“ die Folge gewesen. In Summe ließ das in Moskau „alle Alarmglocken schrillen“. So wie jetzt eben auch die Eskalation in der Ukraine, argumentiert Ullrich Mies. Das Katastrophale der gesamten Lage sei, bilanziert er, dass der „Wertewesten“ seit 30 Jahren versuche, das Völkerrecht „in die Tonne zu treten“ und durch eine sogenannte „regelbasierte Ordnung“ zu ersetzen – deren Regeln nur er allein selbst aufstelle. Doch wie lange dies noch so bleibe, sei fraglich. Denn der „Nato-Westen“ müsse angesichts aufstrebender Akteure wie China und Russland um seine dominante Stellung in der Weltpolitik bangen.
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Dieser Artikel wurde vorab am 01.03.22 auf dem Portal SNA-News (ehemals "Sputnik") veröffentlicht.
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Wir danken dem Autor und SNA-News für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Bumble Dee / Shutterstock.com
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