Polen und Ukraine als NATO-Wache am Eisernen Vorhang 2.0
Die einflussreiche militärpolitische US-Denkfabrik RAND Corporation hat sich im US-Stellvertreterkrieg gegen Russland in der Ukraine wieder mal mit einer bemerkenswerten Idee zu Wort gemeldet. Angesichts der bevorstehenden und unabwendbaren Niederlage der Ukraine geht es darum, für das US-Prestige und den Erhalt der NATO zu retten, was noch zu retten ist.
Ein Kommentar von Rainer Rupp.
Wenn die nachfolgend geschilderten RAND-Vorschläge realistisch wären, könnten US/NATO mit einem blauen Auge davonkommen und würden nicht – wie zu erwarten - eklatant als die großen Verlierer in der Ukraine dastehen. Und womöglich käme Washington auch seinem Ziel, Russland strategisch zu schwächen, doch noch etwas näher.
Aber der RAND-Vorschlag baut auf Wunschdenken auf und nicht auf der Korrelation der realen militärischen, wirtschaftlichen und politischen Kräfte, die das Kriegsgeschehens in der Ukraine bestimmen. Da diese sich eindeutig zugunsten Russlands neigen, passen sie in Washington und der NATO überhaupt nicht ins Wunschbild und werden deshalb vorzugsweise ignoriert.
Vorweg sei hier daran erinnert, dass die RAND-Organisation mit ihren Tausenden von Wissenschaftlern aller Fakultäten und erfahrenen Militärs zweifellos zu den größten und einflussreichsten Denkfabriken der USA gehört, und wahrscheinlich an deren Spitze steht. Die in der Regel recht umfangreichen und sehr detaillierten Analysen von RAND und die daraus entwickelten Strategievorschläge haben sich rückblickend immer wieder als Blaupausen für die Handlungen der US-Regierung in deren Außen- und Kriegspolitik erwiesen. Angesichts des über Jahrzehnte aufgebauten Prestiges und des politischen Einflusses von RAND im Pentagon und im US-Kongress ist das auch kein Wunder.
Zwar basiert das jüngste Stratagem von RAND diesmal nicht auf einer umfangreichen Studie, sondern es stammt aus der Feder zweier verdienten RAND-Experten, deren Werk auf dem RAND-„Commentary“-Blog (1) veröffentlich wurde, aber dennoch sollte man den Inhalt nicht auf die leichte Schulter nehmen.
Das gemeinsame Papier wurde von dem „außerordentlichen Senior Fellows bei RAND“, nämlich William Courtney, u.a. ex US-Botschafter in Kasachstan und Georgien und Peter Wilson, seines Zeichens akademischer Militärhistoriker, verfasst. Dabei geht es geht es um die wichtige zukünftige Rolle Polens und der Ukraine, die den beiden Ländern von Washington zugewiesen werden sollte. Geht es nach den Autoren, dann sollen die beiden Länder die schwer bewaffneten, eisernen Wächter am Tor zum zentralen östlichen Frontabschnitt im neuen, auf Jahrzehnte ausgelegten Kalten Kriegs 2.0 werden.
Anscheinend sehnt man sich in Washington zu den Höhepunkten des ersten Kalten Krieges zurück. Damals, in den Jahrzehnten voller Spannungen mit der Sowjetunion, konnten die USA ihre NATO-Vasallen viel leichter dominieren und ihnen nach Belieben diktiert, als später, zu Zeiten der Entspannung, als die NATO-Europäer mit Russland zum gegenseitigen Vorteil lebhaft Handel trieben. Diese Überlegungen schwingen – wenn auch unausgesprochen – zwischen den Zeilen des Papiers der beiden „außerordentlichen Senior Rand Fellows“ mit.
Auf jeden Fall beginnen die beiden Autoren mit einem Rückblick auf den ersten Kalten Krieg. In Bezug auf Polen und die Ukraine lassen sie schon im ersten Absatz die Katze aus dem Sack. Vor allem die besonderen Erfahrungen Westdeutschlands aus der unmittelbaren Nachkriegszeit könnten für Polen, aber vor allem auch für die Ukraine nützlich sein. Wörtlich heißt es:
„Im Kalten Krieg stand Westdeutschland mit robuster NATO-Unterstützung in der Mitte des Eisernen Vorhangs Wache. Mit Blick auf die Zukunft werden Polen und die Ukraine zusammen mit der NATO das Zentrum Europas am zentralen Frontabschnitt (gegen Russland) verteidigen. Erkenntnisse aus der westdeutschen Erfahrung könnten ihnen dabei helfen.“
Um diese Aufgabe zu erfüllten bräuchten „Polen und die Ukraine in Zukunft erheblich mehr militärische Unterstützung durch die NATO-Alliierten, aber immer noch weniger als Westdeutschland in den 1950er Jahren erhielt“, heißt es im RAND-Blog der beiden Autoren. Anschließend vergleichen sie die damalige Situation in Westdeutschland mit der aktuellen Lage. Genau wie aktuell im Fall der Ukraine sei Anfang der 1950er Jahre „die Aufrüstung der Bundesrepublik und ihr Beitritt zur NATO ebenfalls umstritten gewesen“, heißt es weiter. Genau wie Zelenskij heute habe Bundeskanzler Konrad Adenauer die westlichen Besatzungsmächte immer wieder aufgefordert, ihre BRD-Streitkräfte zu verstärken und der Bundesrepublik Sicherheitsgarantien zu geben. Deutschland habe „diese Garantie mit dem Beitritt zur NATO im Jahr 1955 erhalten“, führen die Autoren weiter aus, um dann wieder die Ukraine ins Spiel zu bringen:
„Da der NATO-Beitritt der Ukraine noch ungewiss ist, bittet Präsident Wolodymyr Selenskyj ebenfalls um eine eiserne Garantie, wenn auch nicht um NATO-Truppen vor Ort“.
Und dann kommt der bemerkenswerte Satz: Deutschlands Aufnahme in die NATO sei
„trotz der Teilung Deutschlands und einiger Zurückhaltung in Europa, beispielsweise aus Frankreich geschehen. Damals haben die USA den westdeutschen Beitritt unterstützt und heute unterstützen sie den der Ukraine“.
Dann sprechen sich die beiden Autoren für eine unabdingbar nötige US- und NATO-Militär-Präsenz in der Ukraine aus, egal wie der Krieg ausgeht, egal ob die Ukraine gewinnt oder verliert oder womöglich als Resultat des Krieges keiner von beiden gewinnen wird. Weiter heißt es im Originaltext:
„Die Frage, die auf dem Tisch liegt, ist die Art einer umsichtigen, militärischen Präsenz der USA und der Alliierten nach dem Ende des Krieges in Polen und der Ukraine. Wenn Russland militärisch aggressiv bleibt oder sein Krieg gegen die Ukraine in einem instabilen territorialen Kompromiss endet, dann könnten erhebliche US- und alliierte Streitkräfte in Polen und der Ukraine sowie in den baltischen Staaten und anderswo erforderlich sein.“
Hier haben wir den Kern des RAND-Vorstoßes. Hinter der im Text benutzten Formel eines möglichen Ausgangs des Krieges mit einem „instabilen, territorialen Kompromiss“ versteckt sich natürlich nichts anderes als eine Teilung der Ukraine in eine Ost- und Westukraine. Der östliche Teil würde sich aus dem von Russland integrierten Donbass und aus weiteren Oblasten mit russischen Mehrheiten zusammensetzen, während der andere Teil aus der von US/NATO weiterhin unterstützten Westukraine bestehen würde. Und dies Westukraine sollte dann so behandelt werden wie Westdeutschland, das 1955 - trotz Vorbehalte innerhalb der NATO und trotz seiner ungelösten territorialen Ansprüche gegen die DDR – in die NATO aufgenommen und zu einer Erfolgsgeschichte der NATO wurde.
Implizit unterstreichen die beiden Autoren mit dieser Argumentation, dass selbst eine Teilung der Ukraine ihrer Aufnahme in die NATO nicht entgegenstehen würde. Selbst die Tatsache, dass ungelöste territoriale Ansprüche in den letzten Jahrzehnten für NATO-Beitrittskandidaten ein unüberwindbares Hindernis darstellten, wischen die beiden RAND-Autoren beiseite, nach dem Motto, wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, die Statuten zu beugen.
Da das Selenskij-Regime nicht die Spur von Bereitschaft zeigt, im Rahmen einer umfassenden Friedenslösung seine Ansprüche auf den Donbass und die Krim aufzugeben, wäre eine Aufnahme in die NATO-blockiert. Dieses Problem versuchen die beiden RAND-Experten mit dem Rückgriff auf einen ähnlichen Präzedenzfall, nämlich den NATO-Beitritt der Bundesrepublik Deutschlands (BRD), zu umgehen. Denn Westdeutschland hatte bis in die 1970er Jahre den Alleinvertretungsanspruch (Hallstein-Doktrin) für ganz Deutschland, also auch für die DDR, aufrechterhalten. Und dennoch sei das kein Hindernis für den NATO-Beitritt der BRD gewesen.
Der Beitrag der beiden RAND-Experten ist im Grunde genommen nichts anderes als eine Argumentationshilfe für US-Regierungsvertreter, die sich für den baldigen NATO-Beitritt der Ukraine einsetzen. Im weiteren Text wird dann klar, dass Washington unbedingt nach Wegen und Mitteln sucht, um unter dem Deckmantel der multinationalen NATO die Faschisten in der Ukraine an die Zähne zu bewaffnen und erneut zum Rammbock gegen Russland aufzubauen. Auch dabei gegen die beiden Autoren sehr geschickt vor, indem sie eine scheinbar harmlose Beobachtung mit einer Bemerkung über Artikel-V der NATO-Charter verknüpfen.
Laut der beiden RAND-Autoren ist die Zusicherung der NATO-Garantie, bzw. des Beistands im Falle eines Angriffs auf ein Mitgliedsland von außen, „glaubwürdiger, wenn sie an eine Präsenz alliierter Streitkräfte in Gebieten mit höherer Bedrohung gekoppelt ist“. Konkret heißt das für die Ukraine, wenn NATO-Streitkräfte auf ukrainischem Territorium stehen, dann ist die NATO-Garantie wirklich glaubwürdig. Weiter heißt es dann:
„In Zukunft könnte eine stärkere US/NATO Militärpräsenz (in der Ukraine) unerlässlich sein, um die Abschreckung gegen ein ungebeugtes Russland zu stärken und mit Logistik und High-End-Unterstützung zu helfen, was z.B. Nachrichtendienste, Überwachung und Aufklärung, Luft- und Raketenabwehr, Raketenartillerie, Kampfflugzeuge, elektronische Kriegsführung und Spezialoperationen umfassen könnte und wovon die Vereinigten Staaten bereits einen Teil liefern.“
Weiter heißt es im RAND-Blog:
„Eine erweiterte US-Militärpräsenz in Polen und der Ukraine würde wahrscheinlich neue Fähigkeiten mit sich bringen. Eine dichte russische Luftabwehr an der zentralen Front könnte die Vereinigten Staaten dazu anspornen, F-35-Stealth-Jäger einzusetzen, die mit Raketen der nächsten Generation bewaffnet sind. Die US-Streitkräfte könnten die fortschrittliche Präzisions-Langstreckenrakete (PrSM) mitbringen, eine Fortsetzung der ballistischen ATACMS-Rakete, die die Vereinigten Staaten der Ukraine möglicherweise bald zur Verfügung stellen.“
„In den kommenden Jahren werden Polen und die Ukraine über viel größere Streitkräfte verfügen als Westdeutschland in den ersten Jahren. Polen hat dann vielleicht 325.000 aktive Soldaten, die Ukraine fast 700.000. Diese Kräfte modernisieren sich und gehören zu den stärksten im demokratischen Europa. Zudem sind die Ukrainer kampferprobt für moderne Kriegsführung mit hoher Intensität.“
An anderer Stelle ihres Papiers findet man die Vergleichszahlen für Russlands:
„Heute verfügt Russland möglicherweise nur noch über insgesamt 830.000 Soldaten, von denen viele schlecht ausgebildet oder durch den Krieg in der Ukraine ausgeweidet sind.“
Trotz dieser angeblichen Schwächung der russischen Streitkräfte werde auch in Zukunft eine NATO-Präsenz vor Ort in der Ukraine „wahrscheinlich unerlässlich“ sein, so die Rand-Experten weiter, „denn das Risiko eines unerwarteten russischen Angriffs oder eines militärischen Durchbruchs könnte zu hoch sein. Russland könnte, vielleicht mit chinesischer Hilfe, oder mit neuen Technologien oder mit Kriegslist sich einen destabilisierenden Vorteil verschaffen.“ Kurzum, alle Argumente der RAND-Experten verlangen unbedingt eine starke US/NATO-Präsenz in der Ukraine, vor allem in einer geteilten Ukraine.
Fazit
Zum Schluss scheinen mir noch einige Punkte der Kritik angebracht:
Die Autoren dieses RAND-Papiers haben die von Selenskij zum Tabu erhobene Formel von „der territorialen Integrität der Ukraine in ihren Grenzen von 1991“ vollkommen ignoriert und gehen bereits von einer geteilten Ukraine in baldiger Zukunft aus. Das aber steht im offensichtlichen Widerspruch zu ihrer Aussage über das angeblich nachhaltig geschwächte Russland.
Aber warum stellen die Autoren Russland so schwach dar?
Mit hoher Wahrscheinlichkeit kann davon ausgegangen werden, dass die beiden RAND-Experten über die tatsächlich katastrophale Lage in der Ukraine, sowohl an der Front als auch in der Wirtschaft Bescheid wissen. Dennoch haben sie darüber kein Wort verloren. Auch das Thema der Tragödie der ukrainischen Gegenoffensive, die trotz westlicher "Wunderwaffen“ unter extrem hohen Verlusten an Menschen und Material total gescheitert ist, wird von den beiden Experten mit keinem Wort erwähnt.
Zugleich vermeiden sie alle Probleme zu erwähnen, die die Ukraine daran hindern könnten, in die NATO hineinbringen würde, die sie als höchst unzuverlässigen Partner zeigen, der skrupellos genug ist, für seine fanatisierten ideologischen Zwecke die NATO in einen großen Krieg gegen Russland zu verwickeln. Einen solchen Kriegs könnte die NATO selbst laut umfangreichen RAND-Studien nicht gewinnen, Allerdings würden die europäischen NATO-Länder am meisten leiden.
Offensichtlich sind die beiden RAND-Propagandisten darauf bedacht, den Politikern und der Öffentlichkeit weiterhin das Bild von einer starken Ukraine zu vermitteln, die mit einer hochgerüsteten Armee von 700.000 Soldaten ein wertvolles neues Mitglied der NATO wäre, also ein Trumpf und keine Belastung darstellen würde. Damit tragen sie Wasser auf die Mühlen Kriegstreiber und Russenhassern im Biden-Regime und in großen Teilen des US-Kongresses. Ihnen allen geht es um eine möglichst schnelle Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO, die den Weg freimachen würde, US-amerikanische, militärische Infrastruktur im großen Stil in der Ukraine zu platzieren, um Moskaus unter dem Druck permanenter Bedrohung gefügig zu machen und aus seiner strategischen Partnerschaft mit China zu lösen.
Aber die RAND-Autoren haben die Rechnung ohne den russischen Wirt gemacht. Schließlich war einer der erklärten Hauptgründe für Russlands „Militärische Sonderoperation“ die Absicht gewesen, die Aufnahme der Ukraine in die NATO zu verhindern und alle Versuche des Westens, das Territorium der Ukraine mit Stoßrichtung Moskau zu militarisieren, zu stoppen und rückgängig zu machen.
Der Kreml scheint heute fester entschlossen denn je, die Spezialoperation nicht zu beenden, solange wie die Bedrohung durch die NATO vor der russischen Haustür nicht eliminiert ist. Daher ist nicht anzunehmen, dass Russland sich mit einer von den RAND-Autoren vorgezeichneten Option zufriedengeben wird, auch nicht mit einem Teil der Ukraine als Mitglied der NATO! Die Faktenlage an der Front spricht dafür, dass Russland seinem Ziel näher ist, als der Westen glaubt, bzw. als unsere „Qualitätsmedien“ und weiß machen wollen.
Quellen und Anmerkungen
(1) https://www.rand.org/blog/2023/09/poland-and-ukraine-defending-europes-future.html
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Zbynek Burival/ Shutterstock.com
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