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Nevertheless - Nichtsdestotrotz

Nevertheless - Nichtsdestotrotz


Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Die Wintersonne bringt es an den Tag. Zwischen dem mit Blattgold-Splittern verzierten chinesischem Bronzepferd auf dem Holzfußboden meines Balkonzimmers und der ein Meter entfernten Holzskulptur meines Buddhas ist ein schnurgerader glitzernder Faden gesponnen. Das Pferd hält den Faden zwischen den Zähnen, der Buddha fängt ihn mit erhobener Hand auf. Die Spinne, die dieses Meisterwerk geschaffen hat, muss hier noch irgendwo sein. Ich werde also sehr vorsichtig sein müssen, wenn ich das nächste Mal mit dem Staubsauger anrücke.

Während ich diese Worte schrieb, ist die Sonne ein Stück weiter gewandert. Der Faden ist nicht mehr zu sehen, aber er ist da. Nach Auffassung der Lakota sind Tiere Messenger. Die Botschaft der Spinne werde ich hoffentlich bald entschlüsselt haben … Warum fällt mir bei dieser Gelegenheit eine Geschichte ein, an die ich schon lange nicht mehr gedacht habe, die aber immer noch geeignet ist, mir die Schamesröte ins Gesicht zu treiben? Die aber auch einen wichtigen Wendepunkt in meinem Leben bezeichnet und mich überdeutlich spüren lässt, in welch schrecklicher Solidargemeinschaft ich auf Dauer gelandet wäre, wenn eine innere Instanz nicht die Lehren aus ihr gezogen hätte, um mich neu aufzustellen.

Die Geschichte ist schnell erzählt, sie spielte im Gymnasium am Ratsmühlendamm in Hamburg-Fuhlsbüttel, in der Obertertia (9. Klasse), um genau zu sein. An diesem Morgen bekamen wir einen neuen Klassenlehrer, der uns zur Begrüßung durch seine verspiegelte Sonnenbrille musterte. Ziemlich lange, wie ich fand. „Gut,“ sagte er schließlich, „wir müssen es ja noch eine Weile aushalten miteinander. Deshalb schlage ich vor, dass ihr mir von euch berichtet. Ihr werdet mir morgen also einen Aufsatz mit dem Titel WER BIN ICH? vorlegen. Die guten wie die schlechten Eigenschaften, ihr wisst schon. Dabei sollt ihr durchaus selbstkritisch mit euch umgehen. Verstanden?“ Wir murmelten zustimmend. Der Mann selbst (ich habe seinen Namen noch im Kopf) stellte sich uns nicht vor. Später erfuhr ich, dass er im Dritten Reich Schulleiter in Hamburg gewesen war, ein hohes Tier also. Aufgrund des Lehrermangels hatte man ihn nach dem Krieg in den Schuldienst zurück geholt, wo er seitdem als einfacher Klassenlehrer unter seiner Würde Dienst tat.

Am nächsten Tag sammelte der Dr. (er bestand auf dieser Anrede) unsere Aufsätze ein, um sie zuhause auszuwerten. Meine drei Seiten bestanden hauptsächlich aus üblen Selbstbezichtigungen, die bei weitem nicht alle stimmten, aber aufgrund meines Bekennermuts sicher Anerkennung finden würden. Ich hatte mich als überaus reizbare Figur beschrieben, als jemand, der im Unterricht häufig gelangweilt und daher unaufmerksam ist, der in der Familie beständig Streit sucht, gerne Kaugummi klaut und noch einige andere Nuancen eines nicht sehr liebenswerten Charakters, der eigentlich nichts mit mir zu tun hatte. Vorauseilender Gehorsam nennt man das oder besser: übelste Schleimerei. Meinen Mitschülern muss ähnliches widerfahren sein. Jedenfalls saßen wir am nächsten Tag wie ein durch Selbstkasteiung geschundener Haufen vor dem Nazi mit der verspiegelten Brille, als der die Hefte aus der Aktentasche klaubte, um sie sorgfältig auf dem Pult zu stapeln.

„Ich bin erstaunt,“ begann der Mann, „wie offen und ehrlich, wie mutig sich die meisten von euch beschrieben und offenbart haben. Das hat mich überrascht. Angenehm überrascht.“ Es war nicht nur zu spüren, sondern auch zu hören, wie sich die Erleichterung in der Klasse über den Atem Bahn brach. Wir saßen wieder aufrecht und das tat gut. Der Dr. nahm das oberste Heft vom Stapel, hielte es mit theatralischer Geste in die Luft und sagte: „Aber leider hat nicht jeder hier im Raum die Aufgabe verstanden!“ Er riss ein Blatt Papier aus dem Heft und hielt es mit spitzen Fingern hoch. Soviel ich sehen konnte, war es lediglich mit einer Zeile beschriftet. „Dieser Aufsatz - darf man es so nennen? - stammt von einer gewissen Petra Bernstein. Wo sitzt sie? Aha da. Darf ich ihn vorlesen, Frl. Bernstein? Danke. Dauert nicht lange, dein Aufsatz ist ja kurz und bündig. Hier steht also folgendes, hört genau zu: ICH FINDE MICH GUT SO WIE ICH BIN!“

Der Dr. nahm die Sonnenbrille ab und blickte die schöne Petra verächtlich an. Sie saß hinten, ganz hinten an der Wand. Und wir alle drehten uns nach ihr um. Wir alle setzten einen hämischen, empörten Gesichtsausdruck auf, als hätten wir die Vollmacht erteilt bekommen, über sie zu richten. Ich war auch dabei, ich hatte mich auch umgedreht und zu Petra hinüber geglotzt, die mit feuchten Augen einen nach dem anderen von uns betrachtete. Schließlich stürzte sie aus der Klasse. Wie hörten sie im Flur einen lauten Schrei ausstoßen. Ich kann ihn noch immer hören. Er entsprang der Verzweiflung, von feigen Arschkriechern wie uns an den Schandpfahl gestellt worden zu sein. Sich alleine wiederzufinden unter seelenlosen, manipulierten Monstern, denn solche waren wir für sie an diesem Tag. Ich auch.

Ich betrachte dieses Ereignis heute noch als meine größte Schmach. Immerhin hat sie mir geholfen, mich rechtzeitig und ein für allemal aus der Solidargemeinschaft der Mitläufer zu lösen, deren unerträgliche „Armee“ uns ja gerade zwei Jahre ausgegrenzt, diffamiert und bespuckt hat.

+++ Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman "Go! Die Ökodiktatur" ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. +++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle:  Roman Nerud / Shutterstock.com


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