Wir leben im besten Deutschland aller Zeiten, in einer ganz großen Zeit – ja, einer Zeitenwende. Dass dem so ist, sieht man neuerdings im Nahverkehr und in den Fußgängerzonen: Selbst die Bettler sind dort seit kurzem adretter gekleidet und wirken insgesamt irgendwie gepflegter.
Ein Standpunkt von Roberto J. de Lapuente.
Letzte Woche in der S-Bahn. Ein älterer Herr steigt ein, singt schon während des Einsteigens von Cuore und Amore und hält den anderen Fahrgästen einen Hut vor die Nase. Er sang noch nicht mal schlecht, kräftig und doch klar. Man kann sicher schlechter unter der Großstadt herumsausen als mit Caruso im Waggon. Auffallend war an dem Senioren, dass er einen rüstigen Eindruck machte, nicht schlecht gekleidet war, überhaupt wirkte er nicht wie einer von jenen abgerissenen Gestalten, die sonst in den Bahnen um Unterstützung werben. Denen merkt man fast immer an, dass sie von der Straße kommen, gesundheitliche Probleme haben und Diener irgendeiner Sucht sind. Der Caruso allerdings, der zählte ganz sicher nicht zu dieser Klientel.
Am Ziel angekommen stieg ich die Treppen zum Ausgang der S-Bahn-Station hinunter. Da saß ein älterer Herr auf seinem Rollator. Auch er erbat sich ein Zubrot. Gesang gab es keinen, er war auch nicht ganz so fidel, wie der durch die Bahn huschende Sänger. Aber abgerissen, ungepflegt oder irgendwie verwahrlost, wirkte der Mann auf mich auch nicht. Als ich genauer darüber nachdachte, fiel mir ein, dass ich in der Innenstadt jetzt immer häufiger Menschen sehe, die um ein Almosen bitten, die aber nicht aussehen wie jene Bettler, die man gemeinhin kennt. Sie alle wirken aufgeräumter, ja bürgerlicher – die wuschen sich sicher nicht im Stadtbrunnen. Dennoch schienen sie Not zu leiden – so sehr, dass sie den Sprung zur Bettelei wagten und etwas tun, was sie vorher offensichtlich noch nicht getan hatten.
Unsere bürgerlichen Bettler
Entgegen aller Meldungen könnte man also den Eindruck gewinnen, dass es mit diesem Land doch aufwärts geht. Denn unsere Bettler sehen nun viel gepflegter aus, sind nicht mehr per se obdachlos.
Wer die Entwicklung so analysieren will, findet bestimmt viel Zuspruch in diesem euphemistischen, gerne wegblickenden Lande. Insbesondere die Teilnehmer dieser Bundesregierung würden vielleicht zu einer solch positiven Analyse neigen. Daher regt sich auch wenig Widerrede, obgleich auch eine konzentrierte Hallenhaltung für genau diese ärmere Klientel ins Haus steht.
Aber es ist eben ganz und gar nicht alles okay in diesem Lande. Und die Bettler, die jetzt zurechtgemacht Mitmenschen aufsuchen, die ihnen einige Groschen zustecken wollen, sind eben nicht Ausdruck eines Aufschwungs, nicht mal Ausdruck dessen, dass alles halbwegs in Ordnung ist: Das sind die besorgniserregenden Entwicklungen dieser Zeitenwende. Immer mehr Menschen, die bis neulich vielleicht nicht reich waren, aber wenigstens so einigermaßen hinkamen mit ihren Bezügen, haben es jetzt offenbar nötig, sich ein Zubrot zu verschaffen. Wer dann singen kann, wie unser Caruso, kann wenigstens sagen, dass er versucht sich was dazuzuverdienen: Das hilft vielleicht das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Andere sitzen eben auf ihrem Rollator herum und hoffen auf Mitleid.
Denn vielleicht erbarmt sich ja doch jemand: Wenn es die amtierende Politik schon nicht tut!
Wer sich den gesellschaftlichen Niedergang als eine Dynamik vorstellt, die von heute auf morgen geschaffene Tatsachen erzeugt, sollte bitte jetzt und gleich mal in die Innenstädte streben, um sich belehren zu lassen: So ein Niedergang vollzieht sich in Schritten. Und die ersten Schritte sind gegangen. Jetzt verdrängen bürgerliche Bettler die, die seit Jahr und Tag betteln. Ich meine das übrigens völlig wertfrei – und nicht dem Sinne nach, dass da jemand einem anderen etwas wegnimmt. Im Augenblick rutschen die ersten aus der unteren Mittelschicht in eine Armut hinein, die es ihnen nicht mehr erlaubt, ihren wahrscheinlich ohnehin bescheidenen Lebensstandard zu erhalten.
Singe ich in einem Jahr in der S-Bahn?
Lassen Sie mich kurz aus dem Nähkästchen plaudern. Noch bin ich weit davon entfernt betteln zu gehen. Wir sind Doppelverdiener. Können uns halbwegs ein normales Leben – ohne Auto übrigens, wir wohnen Nähe Innenstadt – leisten. Dennoch spüren wir schon, dass die Einschläge näherkommen. Wir kompensieren sie. Halbwegs kriegen wir das noch hin. Uns ist aber bewusst, dass die Situation peu à peu schwieriger wird, horrenden Nachzahlungen, die man uns in Aussicht stellt: Sicher, irgendwie können wir die wahrscheinlich noch bezahlen. Und dann? Leben wir weiter ohne Substanz? Immer die Angst vor einer nächsten Nachzahlung im Nacken, die wir dann nicht mehr irgendwie bezahlen können?
Wie muss es da erst Menschen gehen, die schon jetzt an die Grenze ihrer Zahlungsfähigkeit gekommen sind? Für die ein steigender Butterpreis schon katastrophal ist? Einige gehen betteln – sie überwinden sich. Das muss man erstmal schaffen. Wie viele sitzen daheim und reizen erst den Dispo aus und darben danach?
Auf den Herbst müssen wir nicht warten, um dann dem Untergang zuzusehen, der Etablierung der Massenverelendung. All das findet schon jetzt statt. Mitten unter uns. In unseren Städten und Dörfern. Man muss nur genau hinsehen. Ja, man muss es auch sehen wollen. Aber wie es so ist mit der Armut und den Armen, man guckt lieber weg, denn Armut beschämt uns – und ja, sie macht uns Angst. Denn wir fragen uns, ob wir es selbst sind, die in einem Jahr singend oder dichtend oder jonglierend in die S-Bahn steigen – in ein Nahverkehrsmittel, das so teuer geworden ist, dass wir auch noch schwarzfahren, während wir uns was dazuverdienen wollen.
Wer schweigt, stimmt zu
Hier geht ganz und gar nicht die Welt nobel zugrunde. Unsere neuen Bettler sehen so schick aus, weil sie erst seit gestern Bettler sind. Ihre Frische wird vergehen, auch sie werden in Zukunft einen abgerissenen Eindruck machen. Verelendung läuft zuweilen schleppend. Und was heute noch aussieht wie ein Land, in dem selbst die Ärmsten noch schmuck dreinschauen, ist in Wirklichkeit der Beginn des Verfalls, der eingeleitete Niedergang.
Und während sich diese Entwicklung vollzieht, lauschen wir den Reden unserer Ministerinnen und Minister, die davon geprägt sind, die Ausweglosigkeit der Stunde überzubetonen. Sie tun so, als seien sie – und damit wir – einem Naturgesetz unterworfen, gegen das man schlicht nichts tun könne.
Sie beschreiben diese Sanktionen als irgendwas zwischen Periodensystem und Gravitationsgesetz. Sie seien quasi wie die Erdanziehungskraft, der man faktisch nicht trotzen könne.
Und mit diesem Kniff, die Alternativlosigkeit wieder und wieder und wieder aufs Tapet zu bringen, nehmen sie uns – und jene alten und armen Menschen, die jetzt nochmal eine »Bettlerkarriere« machen müssen – in Geiselhaft. Ja, eine kleine Minderheit nimmt uns in Geiselhaft: Nie war der Spruch so richtig wie heute.
Wer jetzt schweigt, der stimmt zu. Der stimmt zu, wenn Menschen, die ihr Leben lang arbeiteten und es vielleicht immer noch tun, ihre Mitmenschen um einige Euro anpumpen müssen. Der stimmt zu, wenn die Schlangen bei den Tafeln länger und länger werden. Und vor allem stimmt man zu, dass es einen selbst bald ereilt. Vielleicht noch nicht heute. Unter Umständen hangeln wir uns auch durchs Morgen. Aber übermorgen rangeln wir dann mit Caruso und dem Rollator-Greis um die besten Bettelplätze. Wenn die Sanktionen nicht enden, wenn man nicht aufhört mit der kalkulierten Undiplomatie, dann stimmen wir zu, dass sie uns um alles bringen.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 18. Juli 2022 bei neulandrebellen.de +++
Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Enrique Ramos / shutterstock
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