Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Auf diesen Tag habe ich lange warten müssen. Am liebsten würde ich ihn in die Tasche stecken und auf Weltreise gehen. Ein Hamburger auf Reisen, mit einem 24 Grad warmen Tag im Gepäck. Windumschmeichelt und aus purem Licht. So klar, so tief. Alle Farben im Urgrund getroffen. Leuchtend vor der weiten schwarzen Kulisse des Universums postiert. Ein Hamburger auf Reisen. Fegt mit seinem goldenen Schatz über verseuchte Sümpfe und Wüsten. An einem solchen Tag sollten wir uns verschwören: zu Feinden der Angst.
Das schrieb ich vor einem Jahr auf apolut, gezeichnet von den Schrecken der Coronazeit. Jetzt darf ich einen solchen Glitzertag noch einmal erleben, ausgerechnet in Ostfriesland, wo der Himmel sich gewöhnlich in hell- oder dunkelgrau aufs Gemüt zu legen pflegt und selbst das frische Mai-Grün nicht zur Geltung bringen mag. Das ist heute anders. Und was liegt da näher, als sich an den Nordseestrand zu begeben. Der Weg dorthin ist merkwürdig ruhig, kaum Verkehr auf den Straßen, als hätten die Schleppen der allgegenwärtigen Windräder die Autos von der Fahrbahn gefegt. Und dann … Ein flirrend weißer Sandstrand, kilometerlang vor der schwarzgrünen Schlickwüste des Wattenmeers gelegen. Menschenleer! Kein Kindergeschrei, keine Wortfetzen vorüber stolpernder Passanten, keine fliegenden Nivea-Bälle, keine im Bräunungscenter vorgefärbten Damen und keine Befehle erteilenden Hängebauchmonster. Am Horizont glänzen die ostfriesischen Inseln Norderney und Juist in der Sonne.
Ich lege mich in die Sandmulde einer mit scharfkantigem Seegras bewachsenen Düne, hinter deren Rücken ein stiller Süßwassersee den Wildenten als Start-und Landerampe dient, während weiter hinten vier einsame Telegraphenmasten stehen, als halten sie nur noch unter sich Verbindung.
Ich atme tief und regelmäßig, hole die würzige Luft wie mit einem Fischernetz ein. Mir wird schwindlig dabei. Seien wir ehrlich: wir sind diese Ruhe, dieses Insichruhen der Natur, nicht mehr gewohnt. Hier nun ist ein Platz, wie man ihn mir besser nicht hätte bereiten können, um den angeschwemmten Informationsmüll der Außenwelt zu entsorgen. Ich blicke mich um in der Weite, die trotz aller Klarheit etwas zu verbergen scheint. Was ich wahrnehme ist so zart und zerbrechlich, als seien die Bilder auf einen seidenen Vorhang gemalt, als seien sie eine unsichtbare Membran, die unsere Realität von der wahren Wirklichkeit zu verbergen sucht.
Ich muss an eine Gedicht von Pablo Neruda denken: STILL SEIN. In ihm heißt es:
Würden wir nicht so einseitig auf dauerhafte Geschäftigkeit eingestellt, um den vermeintlichen Schwung in unserem Leben aufrechtzuerhalten, könnten wir nur einmal wirklich „nichts“ tun, vielleicht würde eine gewaltige Stille unsere Traurigkeit unterbrechen; die Traurigkeit darüber, dass wir uns nicht verstehen und uns mit dem Tod bedrohen. Vielleicht kann die Erde uns lehren, dass es den Tod gar nicht gibt. Und nun werde ich bis zwölf zählen und ihr werdet ganz still sein, und ich werde hinaus gehen.
Eine Fliege hinterlässt eine Kitzelnaht auf meiner Unterlippe. Was mag sie denken? Denkt sie überhaupt? Wie nimmt sie die Welt wahr? Die Zeit? Ich persönlich mag die Zeit nicht. Sie ist ein Parasit, sie braucht den materiellen Nachschub, damit sie überhaupt sichtbar wird. Sie hängt den Körpern und Dingen wie eine Würgeschlange um den Hals. Im Meer der unendlichen Möglichkeiten, wie die Quantenphysik das allumfassende Ganze nennt, in dem alles gespeichert ist, was jemals von irgendeiner Kreatur gedacht oder gefühlt wurde oder noch gedacht oder gefühlt werden wird, spielt die Zeit keine Rolle, nicht die geringste.
Während ich von einer Gedankenwolke auf die andere springe, zeichnet die Fliege ein wirres Muster an Kitzelnähten auf mein Gesicht. Jede Spezies auf unserem Planeten, Fliege wie Mensch und auch alle anderen der Millionen Spezies auf der Erde, haben ein eigenes Kommunikations- und Wertesystem, ein eigenes Zeitempfinden. Jede Spezies empfindet sich daher logischerweise als Mittelpunkt der Welt. Auch der Mensch. Balance.
Nun ist gut, Fliege! Gut jetzt! Ich greife zu dem Buch, das ich schon lange lesen wollte und das mich wie ein Versprechen auf jede Reise begleitet: Botho Strauß: „Paare Passanten“. Die Fliege hüpft auf die vom Wind aufgeschlagene Seite 111. Dort heißt es:
„Er saß draußen auf dem freien Land und er las in einem Buch das Wichtigste, was er je zu lesen bekommen hatte. Nur die Sprache sagte er sich, hat dich bisher diese elende Einsamkeit ertragen lassen. Es schafft ein tiefes Zuhause und ein tiefes Exil, in der Sprache zu sein.“
Und dann zitiert er den 1998 verstorbenen mexikanischen Schriftsteller Octavio Paz:
„Literatur beginnt, wenn einer sich fragt: wer spricht in mir, wenn ich spreche?“
Botho Strauß teilt die Angst aller großen Dichter. Sie fragen sich, was wohl passiert, wenn ihnen die gottgegebene Sprache plötzlich entzogen wird, wenn die Worte unter sich bleiben und er ausgeschlossen und erkenntnislos zurückbleibt. Eine schreckliche Vorstellung, über die die beiden Wildgänse, die knapp über mir mit schrillem Schrei nach Norden ziehen, nie nachzudenken brauchen.
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Brian A Jackson / Shutterstock.com
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