Wenn uns Moralität am Herzen liegt, darf unser Leitbild nicht mehr allein Legalität sein. Exklusivabdruck aus „Corona-Staat“.
Ein Standpunkt von Alexander Christ.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Angesichts des Nationalsozialismus könne „niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, weiterhin behaupten, (...) das Moralische versteht sich von selbst“. So schrieb es Hannah Arendt in „Über das Böse“. Die Nazis handelten nach geschriebenem Recht, das sie selbst geschaffen hatten. Da aber nun offensichtlich ist, dass besagte Gesetze und Vorschriften nichts mit Gerechtigkeit oder gar mit Güte zu tun hatten, muss es andere moralische Kriterien geben, an denen man sich orientieren kann. Es ist nämlich nicht unbedingt so, dass das Gegenteil von „Unrecht“ das „Recht“ ist. Beide können in einem diktatorischen Staat zur Deckung kommen. Daher auch der bekannte Spruch, auf den Alexander Christ in seinem neuen Buch im Untertitel anspielt: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Aber warum dieses Thema ausgerechnet im Jahr 2022 neu aufgreifen? Nun, obwohl zwischen dem Hitler-Faschismus und der Situation im heutigen Deutschland ein gewaltiger Unterschied besteht, ist im Zusammenhang mit den Corona-Maßnahmen in zwei Jahren so viel Unrecht geschehen, dass eine Aufarbeitung dringend nötig scheint. Wir brauchen also eine Perspektive, die es uns erlaubt, über Gerechtigkeit und Ethik in einer vom geschriebenen Recht unabhängigen Weise zu urteilen. Christs Buch „Corona-Staat“ gibt hierzu auf der juristischen wie der philosophischen Ebene tiefgehende Anregungen.
Ab Januar 2021 nahm ich, und nehme bis heute, an zahllosen Demonstrationen, Aufzügen, Treffen, Gerichtsverhandlungen und ähnlichen Ereignissen teil und erlebe dabei als Teilnehmer wie auch als Anwalt fast ausnahmslos die aus Angst oder Obrigkeitshörigkeit gespeiste behördliche Willkür, polizeiliche Gewalt, nachweislose Freiheitseinschränkungen, massiv ungerechtfertigte Diskriminierungen, unerträgliche Grundrechtseingriffe gegen Einzelne, die teilweise nur als „Folter“ im Sinne der Menschenrechtskonvention gewertet werden können, Amtsmissbrauch, Missachtung der Menschenwürde, Missachtung des Rechts auf Bildung, Verletzung des Demonstrationsrechts und der Versammlungsfreiheit nach dem Grundgesetz und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, mit einem Begriff: Verbrechen gegen die Menschheit.
Die Liste des im Namen von „Corona“ begangenen Unrechts ist lang. Und so muss ich meiner Verantwortung als Anwalt gerecht werden und die Frage stellen, wie dieses Unrecht aufgearbeitet, aufgeklärt, juristisch verfolgt und in der Zukunft verhindert werden kann. Auf dem Weg zur Beantwortung dieser Frage muss ich versuchen, eine Antwort darauf zu finden, warum manche solche unrechten Handlungen begangen haben, während andere dies zur gleichen Zeit nicht taten. Warum also wurde jemand Teil derer, mutmaßlich der Mehrheit der Einwohner, die die staatlichen Unrechtsmaßnahmen geduldet oder sogar unterstützt haben? Und warum stellten sich andere gegen dieses von ihnen erkannte Unrecht?
In der letzten Maiwoche 2021, nach sehr kräfteraubenden Demonstrationen am Pfingstwochenende in Berlin, fuhr ich in die Schweiz auf eine ruhig gelegene Hütte in 1400 Metern Höhe. Ich musste den Kopf frei kriegen und über die Frage nachdenken, was es braucht, um Recht von Unrecht zu unterscheiden. Ich nahm mir einen Korb voller Bücher mit, darunter Hannah Arendts Über das Böse, und in der einsamen Wieder-Lektüre und im Gespräch mit mir selbst entstanden Antworten.
Die Situation in Deutschland erschien mir, auch aus der Ferne der Schweizer Berge, als totalitär und freiheitsraubend. Bei Hannah Arendt hoffte ich Erklärungen zu finden. Sie beschäftigte sich dabei weniger mit der Frage, wie ein solches als totalitär und übergriffig wahrgenommenes System funktioniert, sondern vielmehr damit, warum ein Einzelner Teil dieses Systems werden kann. Um die Funktionsweise von Herrschaftssystemen zu verstehen, die als totalitär wahrgenommen werden, lohnt zunächst ein Blick auf das Wesen der üblichen staatlichen Bürokratie „mit ihrer unvermeidlichen Tendenz, welche aus Menschen Funktionäre, schlichte Rädchen in den Verwaltungsmaschinen macht, sie also entmenschlicht“ (1).
In einer perfekten Bürokratie braucht es denn auch keine Gerichtsverfahren mehr, dort können untaugliche Rädchen schlicht gegen taugliche ausgetauscht werden.
Die Beliebigkeit menschlicher Beziehungen und die Entmenschlichung von Vorgängen jeglicher Art ist insofern auch eines der Merkmale unserer heutigen Zeit.
Schaffen wir uns eine Übersicht darüber, um welchen Maßnahmenkatalog es geht und was dahintersteht. Maßnahmen seit Beginn der „Pandemie“ sind das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen, Abstandsgebote, die Feststellung des eigenen Infektionsstatus mittels verschiedener Testarten, eine Impfung mit einem neuartigen Stoff, Reiseeinschränkungen, Aufenthaltseinschränkungen, Versammlungsbeschränkungen, Einschränkungen des Demonstrationsrechts und der Meinungsfreiheit, Zugangsbeschränkungen zu diversen Einrichtungen und zum Handel sowie zu Übernachtungsangeboten, Einschränkungen bei der Ausübung des Berufes.
Alle diese Einschränkungen werden sowohl von Teilen der Exekutive wie auch von Bürgern kontrolliert und umgesetzt.
Die Folgen von Verstößen gegen Regelungen, die in Deutschland dem Infektionsschutzgesetz und den Landesregelungen sowie Verordnungen auf Landes- und auf örtlicher Ebene zu entnehmen sind, reichen durch das Maß und die Art der Ahndung teilweise sehr deutlich über die Grenze der Verhältnismäßigkeit hinaus.
Nun ist unbestritten, dass Hannah Arendts Betrachtungen in ihrer Vorlesung „Über das Böse“ die Ereignisse des Nationalsozialismus zum Hintergrund haben und die dort begangenen Taten in keinem Verhältnis zu den Ereignissen in Deutschland in den Jahren 2020 und folgende stehen. Die Gräueltaten in der fraglos dunkelsten Zeit in der deutschen Geschichte sind per se nicht dazu geeignet, als Vergleich oder Schablone zu dienen, und sind auch gar nicht erforderlich, um irgendein späteres Ereignis vermeintlich besser zu erklären. Verweise auf Handlungsmuster jedoch sind zulässig und geradezu angebracht, sollten doch gerade die Deutschen aus der eigenen Geschichte nachhaltig gelernt haben.
Gerade der Hinweis auf ein Handlungsmuster aus jener dunklen Zeit sollte, so die Lehren aus dem Nationalsozialismus, verhindern helfen, dass so etwas jemals wieder in Deutschland geschehen kann. Es ist also eindeutig, dass eine Gleichsetzung der damaligen mit heutigen Ereignissen unangemessen ist — ebenso einleuchtend ist es aber, dass ein Vergleichen historischer Ereignisse mit aktuellen Geschehnissen eben durchaus einen besonderen Erkenntnisgewinn erbringen kann und damit nicht nur angebracht, sondern vor dem Hintergrund des spezifischen deutschen Geschichte sogar geboten ist. Nur wer vergleicht, kann aus der Geschichte lernen.
Angesichts der Ereignisse im Nationalsozialismus, so Hannah Arendt, konnte „niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, weiterhin behaupten, (...) das Moralische versteht sich von selbst“, dazu waren mit der größten Selbstverständlichkeit zu viele unmoralische Taten begangen worden. Was genau ist denn „das Moralische“, und versteht es sich nach wie vor von selbst oder haben wir dieses sichere Verständnis von dem, was moralisch zu nennen wäre, heute ebenso nicht oder nicht mehr?
Hannah Arendt verweist darauf, es bestehe grundsätzlich ein Unterschied, ja eine scharfe Trennung zwischen der Legalität und der Moralität.
Sofern diese beiden, das, was im Recht des Landes niedergeschrieben ist, und das, was das moralische Gesetz jeweils verlangt, in Konflikt geraten, dürfe kein Zweifel daran bestehen, „daß das moralische Gesetz im Konfliktfall das höhere und zuallererst zu befolgen wäre“ (2). Als Quelle moralischen Wissens nennt Arendt entweder die göttlichen Gebote oder die menschliche Vernunft. Jeder Mensch habe, so sei anzunehmen, eine Stimme in sich, die ihm sage, was Recht und was Unrecht ist, und dies unabhängig vom jeweiligen Recht des Landes, in dem er sich aufhalte, und ebenso unabhängig von den Stimmen seiner Mitmenschen.
Mit dem von Immanuel Kant eingeführten „kategorischen Imperativ“ sei dem Menschen zusätzlich eine Art „Kompass“ gegeben, der es der gemeinen Menschenvernunft erleichtern sollte, zu unterscheiden, was gut und was böse sei. Dieses Wissen könne man in der vernünftigen Struktur des menschlichen Geistes oder im menschlichen Herzen verorten, je nach Auffassung. Zudem sei der Mensch nicht nur ein Vernunftwesen, er gehöre auch in die Welt der Sinne, die ihn der Versuchung aussetzen, seinen Neigungen anstatt seiner Vernunft und seinem Herzen zu folgen. Vernunft, Herz, Sinne, mit diesen dreien haben wir bereits ein System vor uns, das als Quelle moralischen Wissens angesehen werden könnte.
Angesichts der von mir als unrecht erlebten Taten im Verlauf der Corona-Zeit stelle ich mir die Frage, wie es sein kann, dass Menschen wegen zum größten Teil geradezu lächerlich banaler Vorfälle derart unmenschlich handelten. Hannah Arendt weist darauf hin, niemand wolle unmenschlich oder böse sein, und jene, die trotzdem böse handelten, fielen in ein „absurdum morale“, in eine moralische Absurdität, die den „Widerspruch des einzelnen mit sich selbst“ nur noch verdeutliche. In einer ruhigen Minute müssten diese sich selbst verachten.
Ich sehe das tatsächlich ganz genauso: Die Polizisten, die auf Demonstranten oder Passanten eingeschlagen haben, die lediglich ihr Demonstrationsrecht wahrgenommen haben, die vielleicht dabei tatsächlich keine Mund-Nasen-Bedeckung getragen oder den Abstand nicht eingehalten haben oder die ihre Personalien nicht haben aufnehmen lassen wollen oder sich schlicht nicht von Polizisten haben mitschleifen lassen wollen, diese Polizisten haben vielleicht den Bezugsrahmen verloren und übersehen, wie unverhältnismäßig ihr unmenschliches Handeln angesichts der banalen Handlung der Demonstranten war. Dasselbe gilt für die Schulleiter, die Kinder gezwungen haben, Mund-Nasen-Bedeckungen zu tragen oder sich Tests zu unterziehen.
Die Schulleiter, die Kinder nicht in das Schulgebäude gelassen haben, weil die Eltern die Entscheidung getroffen hatten, ihr Kind nicht testen zu lassen, aus welchem Grund auch immer. Die Richter, die Verfahrensbeteiligte nicht in den Gerichtssaal gelassen haben, wenn keine Maske getragen wurde. Die Richter, die Beschuldigte in Ordnungswidrigkeitenverfahren zu einem Bußgeld verurteilt haben, das einen der oben genannten Verstöße zum Gegenstand hatte. Die Arbeitgeber, die einen Arbeitnehmer, der sich nicht testen lassen wollte, nicht an den Arbeitsplatz gelassen haben. Die Zugschaffner, die einen Fahrgast nicht haben befördern wollen, weil eine Maske nicht oder nicht richtig getragen wurde.
All diese Vorfälle sind an Banalität kaum zu überbieten. Inhaltlich geht es dort um nichts. Um einen vorgeblichen Gesundheitsschutz für andere, der höchst umstritten ist. Aber selbst wenn alle Befürchtungen der Ängstlichsten wahr wären, selbst wenn alle Regelungen im Recht normiert wären, selbst wenn an der Rechtmäßigkeit der normierten Regelungen so gar kein Zweifel bestünde, wären dann die Handlungen gegen Zuwiderhandelnde nicht trotzdem unrecht, weil Freiheitsrechte unverhältnismäßig eingeschränkt werden. Selbst dann müsste dem Einzelnen, der diese Untaten begangen hat, in einer ruhigen Minute mit sich selbst glasklar sein, dass es nicht recht sei, was er tut, und er müsste sich selbst für sein Tun verachten.
Wie kann man erkennen, was das zu tuende Gute und zu unterlassende Böse ist? Wie kann ein moralisches Verhalten hervorgebracht werden? Die Schlüsselaussage bei Hannah Arendt scheint mir zu sein, moralisches Verhalten hänge erstens vor allem vom Umgang des Menschen mit sich selbst ab, und zweitens habe moralisches Verhalten nichts mit Gehorsam gegenüber irgendeinem von außen gegebenen Recht zu tun (3). Der entstehende Widerspruch mit sich selbst kann eben im Gespräch mit sich selbst aufgelöst werden, aber nicht als anschließende Rechtfertigung, sondern vielmehr im Sinne eines Korrektivs.
Mit anderen Worten, es hätte jeder, der einen anderen unrecht behandelt hat, erkennen können, ja müssen, dass es ein unrechtes Handeln gewesen ist, selbst wenn dieses Handeln seine Grundlage im gerade geltenden Recht hatte. Hierin liegt der Unterschied zwischen Legalität und Moralität. Moralisches Verhalten hat nichts mit Gehorsam zu tun.
Die Pflichten gegenüber sich selbst stehen über dem geschriebenen Recht, insbesondere dann, wenn dieses erkennbar den moralischen Grundsätzen widerspricht. Moralisches Handeln hat mit innerer Stimmigkeit zu tun.
Die menschliche Schlechtigkeit hat, so meine Erkenntnis aus den stillen Tagen in den Schweizer Bergen, wohl eher mit der fehlenden Reflexion als mit einem Willen, Böses zu tun, gemein. Keiner tut das Böse um des Bösen willen, meint Hannah Arendt, und ich schließe mich ihr an. Wenn auch widerwillig, denn die Realität sieht oft so aus, als wäre das anders. Aber auch ich lasse mich durch meine Emotionen täuschen. Nun, eines steht jedoch fest, im Gespräch mit mir selbst vermag ich meine eigenen Handlungen zu spiegeln und so im Ergebnis zu erkennen, ob eine Handlung recht oder ein Zustand gerecht ist. Es gilt also, „das moralische Gesetz in mir“ (4) zu erkennen.
Wer verwerfliche Taten, „skandala“ (5), begeht, der tut dies häufig gepaart mit oder gespeist aus Verzweiflung, Neid oder einer anderen negativen Emotion dieser Art. Oft müssen wir einen Mangel an Urteilskraft feststellen, der sich auf allen Gebieten zeigt.
„Wir nennen ihn Dummheit bei verstandesmäßigen (kognitiven) Angelegenheiten, Geschmacklosigkeit in ästhetischen Fragen und moralische Stumpfheit oder Geisteskrankheit, wenn es sich um Verhalten handelt“ (6).
Jedoch immer handelt es sich bei Taten des Bösen um solche, die niemals hätten geschehen dürfen.
Nach Kant ist das, was er den „Gemeinsinn“ nennt, jener Sinn, der uns in eine Gemeinschaft mit anderen einpasst, so erklärt es Hannah Arendt, und der uns zu Mitgliedern einer solchen Gemeinschaft macht und uns in die Lage versetzt, Dinge zu kommunizieren. Dabei hilft uns die Einbildungskraft, die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, das nicht anwesend ist, und die Repräsentation, also das, was entsteht, wenn ich mehrere Standpunkte anderer in mein Denken mit einbeziehe, mir diese vergegenwärtige und also bei meinem Urteil berücksichtige. Nach Immanuel Kant sind hierbei drei unwandelbare Gebote zu beachten:
„1) Selbst denken. 2) Sich (in der Mitteilung mit Menschen) in die Stelle jedes Anderen zu denken. 3) Jederzeit mit sich selbst einstimmig zu denken“ (7).
Bei unserem Urteilen beziehen wir uns üblicherweise auf Erfahrungen, Beispiele, Vorbilder in guter wie in schlechter Hinsicht. Wir urteilen und unterscheiden Recht und Unrecht, indem wir in unserem Kopf zeitlich und räumlich abwesende Personen oder Fälle gegenwärtig haben, die zu Beispielen geworden sind. Dabei sind die Wahl der Beispiele und die Wahl des Umgangs von entscheidender Bedeutung.
Und so kommt Hannah Arendt am Ende ihrer vier Vorlesungen über das Böse zu der Erkenntnis, „daß unsere Entscheidungen über Recht und Unrecht von der Wahl unserer Gesellschaft, von der Wahl derjenigen, mit denen wir unser Leben zu verbringen wünschen, abhängen werden.
Und noch einmal: Diese Gesellschaft wird durch Denken in Beispielen ausgewählt, in Beispielen von toten oder lebenden wirklichen oder fiktiven Personen und in Beispielen von vergangenen oder gegenwärtigen Ereignissen. In dem unwahrscheinlichen Fall, daß jemand daherkommen könnte und uns erzählen, er würde gerne mit Ritter Blaubart zusammensein, ihn sich also zum Beispiel wählen, ist das einzige, was wir tun können, dafür zu sorgen, daß er niemals in unsere Nähe gelangt. Doch ist, so fürchte ich, die Wahrscheinlichkeit weitaus größer, daß jemand kommt und uns sagt, es sei ihm egal, jede Gesellschaft wäre ihm gut genug. Diese Indifferenz stellt, moralisch und politisch gesprochen, die größte Gefahr dar, auch wenn sie weit verbreitet ist.
Und damit verbunden und nur ein bißchen weniger gefährlich ist eine andere gängige moderne Erscheinung: die häufig anzutreffende Tendenz, das Urteilen überhaupt zu verweigern. Aus dem Unwillen oder der Unfähigkeit, seine Beispiele und seinen Umgang zu wählen, und dem Unwillen oder der Unfähigkeit, durch Urteil zu Anderen in Beziehung zu treten, entstehen die wirklichen ‚skandala‘, die wirklichen Stolpersteine, welche menschliche Macht nicht beseitigen kann, weil sie nicht von menschlichen oder menschlich verständlichen Motiven verursacht werden. Darin liegt der Horror des Bösen und zugleich seine Banalität“ (8).
Auf diese Weise wird verständlich, warum Menschen in Abhängigkeit von sozialer Anerkennung und persönlicher Vorteilssuche den inneren Dialog aussetzen und sich einer Masse von Mitläufern und Mittätern anschließen.
In den Schweizer Bergen war ich mit mir allein, ich glaubte anhand der Lektüre Hannah Arendts zu erkennen, worin das Problem der unterschiedlichen Bewertung ein und desselben Sachverhaltes liegt, das uns gegenwärtig so zu schaffen macht. Während ein Teil der Menschen sich in die Gesellschaft einer skrupellosen Politmafia mit verdeckten Zielen begeben hat und entweder aus Mangel an Urteilskraft, aus Bequemlichkeit oder aus Verwirrung des eigenen Werte- und Moralkompasses oder aber aus Verweigerung des Selbstgesprächs die rechte Richtung, den Weg zu dem, was recht ist, was an sich von jedermann als das rechte Handeln erkannt werden müsste, verloren zu haben scheint, hat ein anderer Teil dieses Zwiegespräch mit sich selbst glücklicherweise noch nicht verlernt und praktiziert es nach wie vor. Diese beiden Lager stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber und es stellt sich die Frage, ob eine Versöhnung zwischen den Lagern überhaupt noch möglich sein wird.
Bei einem solchen Gespräch mit sich selbst steht man gleichsam neben sich, man beobachtet sich wie ein Außenstehender, und dabei prüft man das, was man beobachtet, kritisch. So wird für einen selbst erkennbar, ob das eigene Handeln noch recht ist oder schon außerhalb der eigenen Grenzen liegt. Indem ich mich um mich selbst kümmere, bleibe ich mir nahe und verwechsle nicht fremde Ziele mit den eigenen. Indem ich bei mir selbst bleibe, respektiere ich dennoch die Grenzen der anderen. Dieses Gesetz kann auch zum Gesetz für andere werden — auch und nicht nur in dieser Hinsicht eine auffällige Übereinstimmung mit Kant.
Das Gespräch mit mir selbst, das Vermögen, mich außerhalb von mir selbst stehend beobachtend zu beurteilen, die rechte Gesellschaft, dazu der innere Kompass einer unverrückbaren Werteordnung, die mir selbst entspricht, die Beschränkung auf das eigene Ziel — dies sind die Grundlagen für eine wahre Befähigung, Recht von Unrecht zu unterscheiden.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Hannah Arendt, Über das Böse. eine Vorlesung zu Fragen der ethik, 14. Aufl., Piper, München 2006, S. 22 (2) Ebd. S. 26 (3) Ebd. S. 137 (4) Ebd. s. 137 (5) Ebd. S. 47 (6) Ebd. S. 138/139 (7) Immanuel Kant, Anthropologische Didaktik, Zweites Buch, § 57, sämtliche Werke Band 3, Mundus, 2000, S. 240 (8) Hannah Arendt, Über das Böse, a. a. O., s. 149/150
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 21. Juni 2022 bei www.rubikon.news
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