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Regeln oder Völkerrecht und Menschenrechte? | Von Jochen Mitschka

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Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.

Deutsche Politiker benutzen die Begriffe Menschenrechte und Völkerrecht, wenn es darum geht, tatsächliche oder behauptete klare Verstöße von politischen Gegnern anzuprangern. Sobald es aber um eigene Taten geht, hört man meist „regelbasiert“ und „Werte“. Denn jene Regeln sind nicht mit dem Völkerrecht kompatible Vorgaben des Imperiums USA, und Werte sind jene Zustände, welche westliche Politik und Medien uns als unsere Werte erklären. Das Völkerrecht dagegen ist ein Regelwerk, welches auf der Vereinbarung internationaler Regeln basiert, sich aber auch aus Gewohnheitsrecht weiterentwickelt. Aber, das wird Tenor dieses PodCasts, mit der Schaffung von „Gewohnheitsrecht“ oder eines „Referenzurteils“, eines „Präzedenzfalls“ oder eines „Standardurteils“ können sich ihre Erzeuger in einer multipolaren Welt selbst in den Fuß schießen.

Vorwort

Regeln und Werte ändern sich im Laufe der Zeit. War früher Homosexualität unter Strafe, und wurden „obszöne“ sexuelle Heftchen nur unter dem Ladentisch verkauft, ist es nun normal und entspricht unseren „Werten“, wenn Menschen nackt oder in monströsen und absurden sexuellen Kostümen durch die Straßen ziehen, und sich jährlich selbst das Geschlecht wechseln dürfen. Und der „Wertewesten“ möchte nun anderen Kulturen und Gesellschaften genau diese „Werte“ vorschreiben. Was nicht überall auf Freude stößt.

Völkerrecht gilt, wenn Washington einen Sicherheitsratsbeschluss erreicht. Regeln gelten, wenn es ganz alleine und unter Bruch von Verträgen zum Beispiel Sanktionen verhängt, oder „Bestrafungen“ in Form von Bombardierungen vornimmt, unter dem Vorwand von angeblichen oder tatsächlichen Menschenrechtsverletzungen des Feindes. Was nach Völkerrecht illegal ist, aber eben „regelbasiert“.

Ähnlich ist es mit dem so genannten „Responsibility 2 Protect“, also der angeblichen Verpflichtung von Staaten, sich in andere Länder einzumischen, wenn dort Unrecht begangen wird. Das soll auch gelten, wenn dies NICHT durch das Gremium, was laut UNO-Verträgen einzig dafür zuständig ist, beschlossen wurde. Die Einführung dieser Regel wurde von der UNO allerdings vehement abgelehnt (2), diente es doch nur den militärisch überlegenen Staaten des Westens in allermeisten Fällen als Vorwand, um unliebsame Länder zu bombardieren.

Aber der mächtige Westen versucht weiter, seine Regeln durch „Gewohnheitsrecht“ zum Völkerrecht werden zu lassen. Und natürlich scheut er nicht davor zurück, Lügen für seine Legitimation zu nutzen, was vor 20 Jahren sogar öffentlich-rechtliche Medien noch erklären durften (4).

Ein Schritt in Richtung Gewohnheitsrecht war ein Gerichtsurteil, welches nachträglich die Bombardierung Serbiens durch die NATO (und Deutschland) 1998 mehr oder weniger rechtfertigte. Warum die westliche Initiative, sich Absolution für den Angriffskrieg zu holen, nun Russland in die Hände spielt, beleuchtet ein Artikel von Boris Tadić in The National Interest (1). Er beschreibt, wie „ein IGH-Urteil von 2010 das Völkerrecht zu Putins Gunsten destabilisierte“.

Das „völkerrechtliche Gewohnheitsrecht

Hatten damals Kritiker des Krieges und des Urteils schon davor gewarnt, dass dieser Angriffskrieg ohne UN-Votum und das darauf folgende Urteil, der Beginn der Erosion des Völkerrechts sein könnte, bekommen sie nun Recht.

Der Autor des Artikels schreibt, dass die Rede von Wladimir Putin anlässlich der Übernahme von vier ukrainischen Regionen in die russische Föderation, reich gewesen sei „an Geschichte und Übertreibungen“. Der russische Staatschef habe jedoch einen Vorwurf an den Westen erhoben, den dieser nur schwerlich überzeugend zurückweisen könne:

"Es war der sogenannte Westen, der den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Grenzen mit Füßen getreten hat, und jetzt entscheidet er nach eigenem Gutdünken, wer das Recht auf Selbstbestimmung hat und wer nicht!“

Der Autor war zum Zeitpunkt der versuchten Abspaltung des Kosovo Präsident Serbiens. Er schreibt, dass er damals erklärt habe, dass das Vorgehen des Westens "das Völkerrecht außer Kraft setzt, das Recht mit Füßen tritt und Ungerechtigkeit begünstigt". Dass es sich um einen gefährlichen Präzedenzfall handele, sei von verschiedenen Staats- und Regierungschefs bekräftigt worden. Einige Kritiker seien aus dem Westen gewesen, und sie hätten sich um die destabilisierenden Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen gesorgt. Putin, und man sollte hinzufügen, viele andere, hatten bereits 2008 gewarnt, dass der Westen das Ausmaß der Folgen nicht begreife: Die Anerkennung des Kosovo sei

"ein Stock mit zwei Enden, und das zweite Ende wird zurückkommen und ihnen ins Gesicht schlagen".

Einige westliche Politiker haben damals argumentiert, der Kosovo sei ein Fall sui generis: Er schaffe keinen Präzedenzfall für andere, die nach Unabhängigkeit strebten, weil er einzigartig sei. Aus welchen Gründen, sei jedoch nie klargestellt worden.

Nun habe dieser Präzedenzfall dazu geführt, dass Russland innerhalb von wenigen Monaten  Abchasien und Südossetien anerkannte, abtrünnige Regionen in Georgien, die mehr als 15 Jahre zuvor ihre Unabhängigkeit erklärt hatten. Russland habe die Entscheidung zum Kosovo kritisiert, sie aber auch als Präzedenzfall ausgenutzt. Jeder habe nun die von der NATO angewandte Zerstörung der internationalen Verträge für sich als Präzedenzfall beanspruchen können, so der Autor.

Im Prinzip hätten die drei sezessionistischen Regionen viel gemeinsam gehabt. Abchasien, Kosovo und Südossetien waren autonome Regionen innerhalb sozialistischer Republiken in kommunistischen Blöcken gewesen. Allen wurde nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und Jugoslawiens die Autonomie entzogen; alle hätten ihre Unabhängigkeit mit der Begründung proklamiert, dass sie die ethnische Minderheit - Russen bzw. Albaner - vor dem Mutterstaat schützen wollten. Der Hauptunterschied, so der Autor, lag darin, wer die Anerkennung vornahm: Russland auf der einen Seite, die Vereinigten Staaten und fast alle ihre NATO-Verbündeten auf der anderen.

In Bezug auf das Kosovo behaupte der Westen, dass das Gespenst der Kriege auf dem westlichen Balkan in den 1990er Jahren alles verändert habe. Doch im Jahr 2008 standen die Kosovo-Albaner gar nicht unter existenziellem Druck.

Die serbische Führung hatte sich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt, sich für die in Srebrenica (Bosnien) und Vukovar (Kroatien) begangenen Kriegsverbrechen entschuldigt und alle Verpflichtungen gegenüber dem Haager Tribunal erfüllt, das von der UNO zur Verfolgung von Verbrechen während der Balkankonflikte eingerichtet wurde.

Die serbische Regierung habe einen liberalen und pro-europäischen Kurs verfolgt. Das Land sei eine vollwertige Demokratie gewesen. Eine Vereinbarung über eine weitgehende und vollständige Autonomie des Kosovo innerhalb des serbischen Staates habe auf dem Tisch gelegen. Selbst der damalige britische Botschafter habe vor dem UN-Sicherheitsrat erklärt, dass es nicht ideal sei, wenn der Kosovo ohne die Zustimmung Serbiens und ohne Konsens in diesem (Sicherheits-)Rat unabhängig würde.

Die Unterschiede

Es habe jedoch einen Unterschied gegeben, erklärt Tadić: Die Kosovo-Albaner wussten, dass sie die volle Unterstützung der Vereinigten Staaten hatten, die in den 1990er Jahren in einem Krieg auf ihrer Seite interveniert hatten, als Serbien noch von Slobodan Milosevic regiert wurde - also vor der Wiederherstellung der Demokratie in Serbien.

Dies habe ihre Führung ermutigt, Kompromisse zu scheuen und serbische Angebote zur vollständigen Autonomie abzulehnen. Der Westen habe die Tür geöffnet, durch die Putin später eintreten würde.

Der Kosovo habe nicht nur gezeigt, dass der Westen der Meinung sei, dass es eine Reihe von internationalen Regeln für ihn selbst und eine andere für alle anderen geben sollte; er habe auch zu einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) geführt, das den Eckpfeiler der internationalen Rechtsarchitektur - die territoriale Integrität - schwächen würde. Seine destabilisierenden Auswirkungen begännen gerade erst, auf die internationale Ordnung durchzusickern. Was steckt hinter dem Gutachten?

Die Weisheit hinter dem Völkerrecht

Das Völkerrecht sei von Natur aus konservativ. Grenzen seien nicht perfekt. Doch als die UN-Charta in der Asche des Zweiten Weltkriegs verfasst wurde, mussten die unvollkommenen Grenzen eines neuen Mitgliedstaates anerkannt werden, weil dieser sich verpflichtete, alle anderen ebenfalls anzuerkennen. Mit der Aufnahme, so der Autor, würde die territoriale Integrität eines Staates - der Dreh- und Angelpunkt der neuen Ordnung - an diese Grenzen gebunden. Die UN-Staaten seien als grundlegenden Einheiten der internationalen Beziehungen und der Streitbeilegung kodifiziert worden, und nicht als ethnische Bande.

Die Bevorzugung des Unvollkommenen gegenüber der Alternative sollte sich in den kommenden Jahrzehnten noch verstärken, fährt der Artikel fort. Als in den 1950er und 1960er Jahren Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika aufkamen, hätten sich die Führer der Befreiungsbewegungen mit einem Dilemma konfrontiert gesehen. Der Kontinent habe die unsympathischsten Grenzen der Welt besessen. Seine geraden Linien sprachen eher für die mit Bleistift, Lineal und unzuverlässigen Karten bewaffneten Kolonialisten in Europa als für die geografischen, religiösen und ethnischen Gegebenheiten vor Ort.

Die neuen unabhängigen Staaten trafen sich 1964 in Kairo im Rahmen der Organisation für Afrikanische Einheit, um das Problem ihrer fiktiven Grenzen zu lösen. Sie unterzeichneten ein Abkommen, in dem sie zwar anerkannten, dass "Grenzprobleme einen schwerwiegenden und dauerhaften Faktor der Uneinigkeit darstellen", sich aber dennoch verpflichteten, "die bei der Erlangung ihrer nationalen Unabhängigkeit bestehenden Grenzen zu respektieren". Auch sie seien sich darüber im Klaren gewesen, dass die Alternative - eine Neuzeichnung der Landkarte - ein Chaos auslösen würde. Die territoriale Integrität sei das oberste Prinzip der Nachkriegszeit gewesen.

Das Selbstbestimmungsrecht

In der UN-Charta sei jedoch auch ein missverstandenes Prinzip verankert worden: das Recht auf Selbstbestimmung. Das Recht auf einen unabhängigen Staat sollte jedoch nur in Fällen von Kolonisierung oder ausländischer militärischer Besetzung gewährt werden, meint der Autor, und nur dann, wenn diese zu einem unabhängigen Staat führen sollte. Ethnischen Minderheiten sei das Recht auf Abspaltung nicht zugestanden worden. Dennoch hätten die Kosovo-Albaner und viele andere sezessionistische Gruppen ihre Unabhängigkeit auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts begründet.

Die Urteilsfindung

Im Februar 2008, nachdem der Westen den Kosovo überstürzt anerkannt hatte, habe die Regierung Serbiens den IGH um ein Gutachten gebeten. Zunächst habe das Land eine Überweisung durch die UN-Generalversammlung benötigt. Viele im Westen, so erinnert sich der ehemalige Politiker, hätten den Vorschlag zunächst abgelehnt, aber nach dem Druck anderer Nationen, die die Blockade eines legalen und friedlichen Lösungsweges kritisierten, dann doch enthalten, wodurch es zu der UN-Resolution kam. Dennoch hätten die Vereinigten Staaten und Albanien zu den nur sechs UN-Mitgliedsstaaten gehört, die gegen eine Verweisung des Falls an den IGH stimmten.

Nach der abschließenden Verweisung durch die Generalversammlung hätte dann die westliche Lobbyarbeit bei den IGH-Richtern ernsthaft begonnen. Zum Glück für diese Regierungen unterscheide sich die Legitimität eines internationalen Gerichts von der nationalen souveränen Gerichtsbarkeit. Im ersten Fall beruhe sie auf der freiwilligen politischen Zustimmung der einzelnen Nationen, im zweiten Fall seien die Bürger - zumindest im Prinzip - automatisch an das staatliche Recht gebunden.

Die Vereinigten Staaten und andere haben dann verlauten lassen, dass sie das Gutachten einfach ignorieren würden, wenn die Erklärung des Kosovo für rechtswidrig erklärt würde. Eine Ablehnung eines beratenden Urteils durch die mächtigsten Länder der Welt hätte die Glaubwürdigkeit des Gerichts untergraben und es anderen Ländern ermöglicht, seine Schlussfolgerungen ebenfalls zu ignorieren.

Das sei schon einmal passiert. Nach einem Urteil aus dem Jahr 1966 zu Südwestafrika, dem heutigen Namibia, das weithin als Aufrechterhaltung des Kolonialismus angesehen wurde, sei das Gericht fast zwei Jahrzehnte lang in die Bedeutungslosigkeit gestürzt worden. In der unmittelbaren Folge habe der vermeintliche Weltgerichtshof nur noch Seestreitigkeiten verhandelt, die vor allem von europäischen Staaten vorgebracht wurden. Die Glaubwürdigkeit des Gerichts bei den Entwicklungsländern sei erst später durch eine Reihe von Entscheidungen, die das Recht gegen mächtige Nationen aufrechterhielten, wiederhergestellt worden.

Doch die pauschale Ablehnung eines Gutachtens zum Kosovo durch den Westen habe noch mehr Schaden anzurichten gedroht. Die Richter hätten sich also auf einem schmalen Grat bewegen müssen: Einerseits die Grundsätze des Völkerrechts anwenden, aber andererseits die internationale Gemeinschaft mit einbeziehen.

Die Schlussfolgerung im Kosovo-Fall war knapp, der Meinung des sicher befangenen Autors nach, falsch. Sie habe es versäumt, eine sinnvolle Antwort auf die Frage zu geben. Das Gericht habe entschieden, dass die Unabhängigkeitserklärung selbst (das Dokument, nicht der Inhalt) nicht gegen das Völkerrecht verstoße - als ob es sich um eine Frage der Redefreiheit handelte.

Die Frage, ob der Akt der Sezession mit dem Völkerrecht vereinbar war, sei völlig unberücksichtigt geblieben.

Das Gericht äußerte sich in seiner Schlussfolgerung auch nicht dazu, ob die Anerkennung des Kosovo durch Dritte gegen das Völkerrecht verstoße. Es habe erklärt:

"Der Gerichtshof hält es nicht für notwendig, sich mit Fragen wie der Frage zu befassen, ob die Erklärung zur Gründung eines Staates geführt hat oder nicht."

Dies mag den Westen zufrieden gestellt haben, meint der Autor. Aber wie ein abweichender Richter geschrieben habe, war es eindeutig unzureichend: "Die einseitige Unabhängigkeitserklärung ... war nicht dazu gedacht, ohne Wirkung zu sein. ... Sie war der Beginn eines Prozesses, der darauf abzielte, den Kosovo von dem Staat, zu dem er gehört, zu trennen und einen neuen Staat zu schaffen."

Folglich rechtfertige das Gutachten des IGH nichts und alles zugleich. Es eröffne den Raum für diametral entgegengesetzte Interpretationen. Da die Kosovo-Albaner nach ihrer Erklärung die Anerkennung durch UN-Mitgliedstaaten erhalten hatten, wurde ihnen kein Verstoß gegen das Völkerrecht nachgewiesen. Da die Staatlichkeit des Kosovo nicht bestätigt wurde, waren diejenigen in Serbien - und diejenigen, die den Kosovo nicht anerkannten - der Meinung, dass der Grundsatz der territorialen Integrität weiterhin galt: Der selbsternannte Staat sei ein illegales Gebilde. In Wirklichkeit war also nichts geklärt.

Darüber hinaus sandte die Entscheidung ein Signal an den Rest der Welt: Unabhängigkeitsbewegungen hätten nun risikofrei ihre Unabhängigkeit proklamieren und die nationalen Gerichtsbarkeiten, an die sie gebunden waren, überspringen können, indem sie sich auf ein Gutachten im internationalen Recht beriefen. Die Staatlichkeit sei nun von der Anerkennung durch andere abhängig und nicht mehr, wie in der Vergangenheit, vom Völkerrecht bestimmt.

Die UN-Mitgliedsstaaten hätten selbst entscheiden können, ob sie sie unterstützen wollten - und würden dies je nach ihren Verbündeten tun. Mit anderen Worten: aus politischen - nicht aus rechtlichen - Gründen.

Dieselbe Frage, die der IGH im Fall des Kosovo nicht beantwortet habe, starre ihn nun aus den Schützengräben der Ukraine an.

Das Gutachten des IGH habe weder das Recht auf Sezession noch die notwendigen Voraussetzungen dafür geschaffen. Vielmehr sei ein verwirrender Präzedenzfall in die Architektur des Völkerrechts hineingetragen worden. Darin sei die Saat der Instabilität enthalten. Wenn man von der Ukraine aus das Schwarze Meer überquere, seien seine schädlichen Auswirkungen heute bei der Konfliktlösung im Südkaukasus sichtbar. Dann erklärt der Artikel die Situation im Südkaukasus, Details in der Anlage (3).

Das kommende Chaos

Boris Tadić führt dann weiter aus, dass die westlichen Bemühungen um territoriale Integrität ins Stocken geraten. In der unipolaren Welt unmittelbar nach dem Kalten Krieg sei diese Inkonsequenz vielleicht noch vertretbar gewesen. Die globale Ordnung und ihre Stabilität sei damals durch die Macht und Vorherrschaft der USA gestützt gewesen. Niemand habe gewagt, den Westen herauszufordern.

Heute sei die Welt multipolar. Kleinere Länder gruppierten sich je nach ihren Interessen um verschiedene Machtzentren, so wie es ihnen passe. Amerika sei zwar immer noch die vorherrschende Macht, aber seine relative Autorität habe abgenommen. Rückblickend erscheine die frühere Missachtung der territorialen Integrität und des Völkerrechts durch die USA (und den Westen) kurzsichtig. Angesichts zunehmender geopolitischer Spannungen würden solche einvernehmlichen Regeln mehr denn je benötigt, um Machtkämpfe zu entschärfen.

Im Konflikt um den Kosovo sei es nie um eine kleine serbische Provinz gegangen, sondern um die Herausforderung, die sie für den auf territorialer Integrität beruhenden Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg darstellte. Indem er dieses Prinzip mit Füßen trat, habe der Westen seine moralische Autorität verloren. Die Berufung des Westens auf die Grundsätze der territorialen Integrität habe heute außerhalb seines eigenen Hinterhofs an Bedeutung verloren.

„Als Russland die Krim offiziell annektierte, wurde eine Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen eingebracht, in der die territoriale Integrität der Ukraine bekräftigt und die Gültigkeit des Referendums, dem Putin angeblich lediglich folgen wollte, abgelehnt wurde. Das Ergebnis? 100 Stimmen dafür, 11 Stimmen dagegen, 58 Enthaltungen und 24 Abwesende.“ (1)

Auch wenn das Referendum angenommen worden sei, hätten viele UN-Mitgliedsstaaten eindeutig ihre Meinung ausgedrückt, dass sie wenig davon halten, ein System des gegenseitigen Schutzes aufrechtzuerhalten, wenn andere sich nicht an die Regeln halten. Eine ähnliche Abstimmung sei im Oktober 2022 durchgeführt worden. Darin wurde Moskau aufgefordert, seinen "Versuch der illegalen Annexion" der vier ukrainischen Provinzen rückgängig zu machen. Obwohl es bei der Krim-Resolution eine Verbesserung gegeben habe, hätten immer noch mehr als ein Fünftel der Länder dagegen gestimmt oder sich der Stimme enthalten- und das selbst nach intensiver westlicher Lobbyarbeit. Das sei kaum der diplomatische Sieg, der verkündet wurde:

„Vergleichen Sie sie mit einer Resolution der UN-Generalversammlung von 1974, in der die territoriale Integrität Zyperns nach der Invasion des Nordens durch die Türkei bestätigt wurde: 117 Stimmen dafür, 0 Stimmen dagegen, 0 Enthaltungen.“ (1)

Der Präzedenzfall Kosovo und das anschließende Urteil des IGH habe nicht nur Auswirkungen auf die internationale Gemeinschaft gehabt, sondern gebe auch jeder Gruppe, die sich abspalten möchte, eine Chance. Angesichts der zunehmenden globalen Instabilität werde dies immer gefährlicher.

Die Coronavirus-Pandemie, die russische Invasion und die westlichen Sanktionen haben die Weltwirtschaft zutiefst erschüttert, liest man in dem Artikel weiter. Sezessionsversuche werden nun häufiger vorkommen.

„Letztlich sind Sezessionismus oder Annexion regressive Antworten auf die Frage der multiethnischen Staaten. Wenn wir unserer zunehmend zersplitterten und dezentralisierten Welt einen gewissen Anschein von Stabilität zurückgeben wollen, müssen wir zum Grundsatz der territorialen Integrität zurückkehren.“ (1)

Der Autor schlägt eine erkennbar subjektive Lösung vor. Die westlichen Staaten könnten ihre Anerkennung des Kosovo zurücknehmen und bekräftigen, dass der Grundsatz der territorialen Integrität zu allen Zeiten und in allen Zusammenhängen gilt. Dies werde Putin vielleicht nicht aufhalten, aber es würde ihm die Rechtfertigung für illegalen Landraub entziehen und gleichzeitig die schlummernden sezessionistischen Kräfte in der ganzen Welt eindämmen, die künftige Instabilität schüren werden. Obwohl es praktisch einfach sei, und die Vorteile auf der Hand liegen, sei ein westliches mea culpa so wahrscheinlich, wie der Autor sarkastisch meint, wie eine Abstimmung Russlands zur Bestätigung der territorialen Integrität der Ukraine.

Soweit der Artikel von Boris Tadić, welcher der erste demokratische gewählte Präsident Serbiens für zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten war (2004-2012).

Fazit

Als die NATO Libyen 2011 unter erlogenen Begründungen bombardierte, war dies der Höhepunkt der „Bomben für Freiheit und Demokratie“, genannt R2P oder („Verantwortung zu schützen“) und besonders die Grünen waren höchst erzürnt, dass deutsche Soldaten nur als AWACS-Führungsoffiziere (ohne die keine Bombardierung stattgefunden hätte) fungierten, und nicht selbst bombardierten. Seitdem wurde es immer stiller, nicht zuletzt, weil es in Libyen und im ganzen nördlichen Afrika seit der Zerstörung der Staatlichkeit Libyens nie vorher ein größeres Leid, Chaos und mehr Menschenrechtsverletzungen, und nicht zuletzt Flüchtlingsströme in Richtung Europa gab. Dass sich Russland nun nicht nur in Hinsicht auf die Legalität von Sezessionen auf die vom Westen erstellten „Regeln“ bezieht, ist nicht überraschend, sondern war zu erwarten gewesen.

Quellen und Anmerkungen:

Jochen Mitschka twittert zu aktuellen politischen Themen unter https://twitter.com/jochen_mitschka

  1. https://nationalinterest.org/feature/anatomy-annexation-how-2010-icj-ruling-destabilized-international-law-putin%E2%80%99s-benefit-206180
  2. https://jomenschenfreund.blogspot.com/2012/06/die-emporung-des-gutburgers-und-r2p.html
  3. Scheitern im Südkaukasus

Am 14. September 2022 verstummten die Kanonen im Südkaukasus. Erneut war ein Waffenstillstand für den am längsten andauernden Konflikt in Europa vereinbart worden. Fast 300 Armenier und Aserbaidschaner waren bei dem Aufflammen des Konflikts ums Leben gekommen, dem größten seit dem Zweiten Karabach-Krieg, der am 10. November 2020 zu Ende ging.

Der Konflikt um Karabach ist seit langem unlösbar. Die Region war einst eine autonome Provinz innerhalb der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan. Als die Sowjetunion zerfiel, erklärte die armenischstämmige Führung der Provinz 1991 ihre Unabhängigkeit und löste damit einen Krieg zwischen den Nachbarn Armenien und Aserbaidschan aus. Das Ergebnis war, dass Armenien etwa ein Fünftel des aserbaidschanischen Territoriums kontrollierte. Nach einem Waffenstillstand im Jahr 1994, der den Ersten Karabach-Krieg beendete, wurde die Provinz zu einem der vielen eingefrorenen postsowjetischen Konflikte - neben Transnistrien in der Republik Moldau und Südossetien und Abchasien in Georgien. Im Jahr 2020 flammte der Konflikt erneut auf: In einem kurzen Konflikt (dem Zweiten Karabach-Krieg) eroberte Aserbaidschan einen Großteil seines Territoriums zurück, wenn auch nicht das gesamte Gebiet.

Zu Beginn des Konflikts schien das Völkerrecht eindeutig auf der Seite Aserbaidschans zu stehen. Im Jahr 1993 wurde in vier separaten Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die rechtlich bindend sind, der Rückzug der armenischen "Besatzungstruppen" bekräftigt. Jede dieser Resolutionen wurde von den Armeniern ignoriert, die sich zunächst auf die alte Geschichte beriefen und ihre Verpflichtung gegenüber der UN-Charta zurücknahmen. Da sie erst vor kurzem zusammen mit Aserbaidschan als frisch unabhängige Länder der UNO beigetreten waren, hatten sie zugestimmt, dass die von der Sowjetunion gezogenen Grenzen die territoriale Integrität des jeweils anderen Landes bilden würden.

Als jedoch der Anspruch des Kosovo auf Staatlichkeit vom IGH nicht abgelehnt wurde, gingen die armenischen Separatisten davon aus, dass das Recht auf ihrer Seite sei. Die Behauptung des Westens, es handele sich um einen Fall sui generis, stieß auf taube Ohren: "Diese Entscheidung (des IGH) ist rechtlich, politisch und moralisch von großer Bedeutung und stellt einen Präzedenzfall dar, der sich nicht auf das Kosovo beschränken lässt", erklärte die nicht anerkannte Regierung der so genannten Republik Berg-Karabach.

Wie im Falle des Kosovo wurden aserbaidschanische Angebote für einen Autonomiestatus von den Armeniern abgelehnt, die nun glaubten, dass ihr Recht auf Selbstbestimmung zu ihrer Anerkennung als Staat führen würde - irgendwann. Die westlichen Partner waren nicht hilfreich. Sie begannen, die vorübergehenden "Fakten vor Ort" als gegeben hinzunehmen, und ihr Engagement für die territoriale Integrität Aserbaidschans ließ nach.

Im Jahr 2008 wurde eine Resolution der UN-Generalversammlung verabschiedet, die die "Unterstützung der Souveränität und territorialen Integrität der Republik Aserbaidschan" bekräftigte und den "sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Rückzug aller armenischen Streitkräfte aus allen besetzten Gebieten Aserbaidschans" forderte. Die Vereinigten Staaten und Frankreich stimmten dagegen. Viele andere westliche Mächte enthielten sich der Stimme.

Das in der Ukraine für absolut erklärte und in Serbien für irrelevant erklärte Grundprinzip der territorialen Integrität wurde nun in Aserbaidschan als zweideutig empfunden. Diese Widersprüchlichkeit lässt sich nicht mit den großen räumlichen und zeitlichen Unterschieden begründen. Sie alle ereigneten sich in einem Zeitraum von dreißig Jahren in der postkommunistischen Welt. Alles, so schien es, war erlaubt. Nichts war prinzipienfest.

Verhandlungen zur diplomatischen Beilegung des Konflikts zogen sich sinnlos hin. Die aufgestauten Frustrationen entluden sich 2020 im zweiten Karabach-Krieg. Das ist zum Teil eine Folge des Kosovo: Die armenische Führung fühlte sich legitimiert, so lange auszuharren, bis ihr Unabhängigkeitsanspruch anerkannt würde; Aserbaidschan sah seine territoriale Integrität als Trumpfkarte. Ohne ein gemeinsames Verständnis des Völkerrechts war der Raum für Kompromisse nicht vorhanden. Da sich der Friedensprozess in einer Sackgasse befand, wurde die Anwendung von Gewalt zur einzigen Möglichkeit, den Status quo zu ändern. Zwei Jahre nach dem Zweiten Karabach-Krieg im Jahr 2020 ist noch immer keine Friedensvereinbarung unterzeichnet worden, und die Lage an der nicht festgelegten internationalen Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan bleibt ungewiss.

4. „Es begann mit einer Lüge“ https://youtu.be/9jZecyCuz3E +++

Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

+++ Bildquelle: shutterstock / beeboys


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