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Reise nach Jerusalem im Verteidigungsministerium | Von Ilona Pfeffer

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Nach anhaltender Kritik hat Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) in einem Schreiben an Bundeskanzler Olaf Scholz am Montag um ihre Entlassung gebeten. Was von Amtsnachfolger Boris Pistorius zu erwarten ist, wird sich zeigen müssen. War Lambrechts kurze Amtszeit tatsächlich so katastrophal? Ist es um die Bundeswehr so schlecht bestellt, wie suggeriert wird?

Ein Kommentar von Ilona Pfeffer.

Der Schleudersitz der Bundesregierung bekommt einen neuen Piloten: Nach etwas mehr als einem Jahr übergibt Christine Lambrecht das Amt an der Spitze des Verteidigungsministeriums an den niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD). In ihrem Schreiben an Bundeskanzler Olaf Scholz begründete die SPD-Politikerin den Schritt mit dem anhaltenden Trubel um ihre Person, der in der Berichterstattung eine sachliche Diskussion über „Soldatinnen und Soldaten, die Bundeswehr und sicherheitspolitische Weichenstellungen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger“ kaum noch zulasse. „Die wertvolle Arbeit der Soldatinnen und Soldaten und der vielen motivierten Menschen im Geschäftsbereich muss im Vordergrund stehen“, so Lambrecht. „Ich habe mich deswegen entschieden, mein Amt zur Verfügung zu stellen.“ 1)

Der negativen Schlagzeilen hat es für Lambrecht tatsächlich zuhauf gegeben. Angefangen bei dem Truppenbesuch in Litauen, den Lambrecht auf wenige Stunden abkürzte, um anschließend nach Ischgl in den Skiurlaub zu fahren, über die Lieferung der 5000 Helme für die Ukraine statt der erhofften militärischen Hilfen, die wiederholte Mitnahme ihres Sohnes auf Dienstreisen, darunter ein Helikopterflug mit einer Maschine der Flugbereitschaft, den vergessenen Namen des neben ihr stehenden Luftwaffenchefs Ingo Gerhartz bei der Verkündung der Anschaffung von F-35-Kampfflugzeugen und bis hin zu der unglücklichen Videobotschaft, die die Ministerin vor dem Hintergrund des Berliner Silvesterfeuerwerks aufgezeichnet hatte.2) Auch politischen Gegenwind musste Lambrecht einstecken, vor allem aus der Opposition. So warf Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) der 57-Jährigen Fehleinschätzungen bei der Vergabe von Aufträgen vor. Konkret ging es darum, welche Unternehmen bei der Beschaffung von neuer Ausrüstung aus dem 100 Milliarden schweren Sondervermögen für die Bundeswehr beauftragt werden sollten. Nach Einschätzung des CDU-Politikers hatte Lambrecht deutsche Unternehmen hierbei unterschätzt. Wenn aber derlei Aufträge an ausländische Rüstungsunternehmen gingen, würde das auch die Folgeaufträge und etwaige Wartungsarbeiten betreffen. Dieser Umstand wiederum würde die Bundesrepublik von anderen Regierungen abhängig machen. „Bei der Bundesverteidigungsministerin habe ich noch nicht das Gefühl, dass dieses Thema bei ihr in guten Händen ist“, sagte Günther gegenüber der Welt.3) Doch auch aus den Reihen der Bundesregierung kam zuletzt deutliche Kritik. Laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung soll das Finanzministerium Lambrechts

„komplizierte, teils intransparente und inkonsequente Bedarfsplanung sowie bürokratische Bestellprozesse“ moniert haben. In einem Schreiben an die Verteidigungsministerin soll Finanzminister Christian Lindner (FDP) unter anderem geäußert haben: „Ich muss feststellen, dass Sie die hier angeführte Notwendigkeit der Munitionsbeschaffung weder bei der Verhandlung zum Sondervermögen noch im Zuge des parlamentarischen Verfahrens zum Ausdruck gebracht haben.“ 4)

Für den Militärexperten Jürgen Rose, Oberstleutnant der Bundeswehr a.D., kam der Rücktritt von Christine Lambrecht vor diesem Hintergrund zwar nicht überraschend, jedoch sieht er das Problem weniger in mangelnder Sachkenntnis oder der schleppend umgesetzten Beschaffung neuer Ausrüstung für die Bundeswehr. Vielmehr sei es die Person Christine Lambrecht, die sich von Anfang an unbeliebt gemacht habe.

„Da hat man eben berichtet bekommen, dass sie sehr rüde und ruppig und machtbewusst mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen umgegangen ist. Als sie ins Amt kam, hat sie erst einmal jede Menge an Personal ihrer Vorgängerin einfach gefeuert, entsorgt sozusagen, in einer Art und Weise, die wohl auch nicht adäquat war. Ihr eilte dann auch der Ruf voraus, nicht besonders beratungsfreundlich zu sein“, so Rose.

Lambrecht erinnere ihn sehr an Volker Rühe in den Neunzigerjahren, der nicht zu Unrecht den Spitznamen Volker Rüpel gehabt habe.

Den Vorwurf der mangelnden Kompetenz Lambrechts würde er aber so nicht stehen lassen, betont der Militärexperte im Interview mit Hintergrund. „Denn diese Minister, die da in die Ämter kommen, sind in der Regel nicht besonders im Thema sachkundig, sondern sie haben im Laufe ihrer Karriere gezeigt, dass sie in der Lage sind, mit mehr oder minder großen Bürokratien umzugehen. Dass sie in der Lage sind, solche Bürokratien effizient zu steuern.“ Die Juristin Lambrecht sei keine ausgewiesene Expertin für Sicherheitspolitik, das sei für das Amt der Verteidigungsministerin aber auch gar nicht notwendig. In einer solchen Position müsse man vielmehr gut analysieren und kommunizieren können und entscheiden, welche Person an welchem Platz mit welcher Aufgabe zu betrauen sei, damit das Verteidigungsministerium gut funktioniere. „Das hat sie offensichtlich nicht verstanden“, attestiert Rose.

Sorgenkind Bundeswehr und wie es in den Brunnen gefallen ist

Wie bei der Lektüre der Kritikpunkte an Lambrecht schnell klar wird, dreht sich dabei vieles um den offenkundig schlechten Zustand der Bundeswehr. Dass bei der Truppe momentan vieles im Argen liegt, bestätigte zuletzt auch eine Bestandsaufnahme, die sich mitsamt Verbesserungsvorschlägen in einem Papier des Verteidigungsministeriums findet. Unter dem Titel „Kritische Bestandsaufnahme für eine Bundeswehr der Zukunft“ werden darin aktuelle Analysen vorgelegt. Beim Bereich „Personal“ etwa solle die Bundeswehr bis 2031 um rund 18.000 Angehörige auf insgesamt 203.300 anwachsen. Dabei würden in diesem Zeitraum jedoch 20.000 Menschen altersbedingt aus dem Dienst ausscheiden. Weil sich auch die Bundeswehr im „Wettstreit der Talente“ sehe, müsse sie sich „als sinnstiftende und moderne Arbeitgeberin“ präsentieren, heißt es in dem Papier. Beim Thema „Material“ liefert das Dokument wenig Konkretes. Es sei keine Analyse nötig, sondern ein Lagebild für die Landes- und Bündnisverteidigung. Investitionsbedarf wird beim Thema „Infrastruktur“ angezeigt. So sollen mindestens 20 Milliarden Euro für Klima- und Nachhaltigkeitsziele fällig werden, daneben 24 Milliarden Euro als Investitionsvolumen. An den Universitäten der Bundeswehr solle verstärkt eigenes Personal ausgebildet werden. Offenkundige Missstände und Handlungsbedarf herrschen laut dem Papier bei der „Funktionalität“. So heißt es etwa: „Die vielfach beklagte Dysfunktionalität von Strukturen, die Unklarheit von Zuständigkeiten in Prozessen, Verfahren und Abläufen sowie die Unschärfe in Schnittstellen sind zu überwinden.“ Regeln aus dem „Friedensbetrieb“ erwiesen sich „bereits im Übergang zur Krise als hinderlich für die Einsatzbereitschaft“, und auch in Bezug auf die Bündnisfähigkeit gebe es Missstände:

„Die Bundeswehr ist derzeit noch nicht ausreichend in der Lage, Großverbände als Beitrag Deutschlands zu Abschreckung und Verteidigung im Bündnis dauerhaft zu stellen und zu unterhalten.“ 5)

Denkt man an den Übungseinsatz kurz vor Jahresende, bei dem alle 18 beteiligten Puma-Panzer, die eigentlich Teil der schnellen Eingreiftruppe der NATO sein sollten, nach nur einer Woche ausgefallen waren, so erscheint das Urteil über die Bündnisfähigkeit durchaus glaubwürdig. Doch inwiefern ist das die Schuld der nun vorzeitig aus dem Amt scheidenden Ministerin? Und hätte sie, Sondervermögen hin oder her, in nur einem Jahr zumindest die gravierendsten Probleme der Bundeswehr beheben können?

Dass viele Missstände in der Bundeswehr nicht Lambrechts „Verdienst“, sondern ein Erbe ihrer Vorgängerinnen aus der CDU seien, wurde in den vergangenen Wochen immer wieder von ihren Parteikollegen zur Verteidigung der umstrittenen Ministerin angeführt und lässt sich auch am Pannen-Panzer Puma nachvollziehen. Erst wurde der Hightech-Panzer mit fünf Jahren Verspätung 2015 ausgeliefert, dann versagte er trotz Nachrüstung im Jahr 2019 bei einer Einsatzprüfung 2020. Im Folgejahr attestierte Alfons Mais, Inspekteur des Heeres, dem Puma die Gefechtstüchtigkeit, nachdem gute Ergebnisse bei Testeinsätzen erzielt worden waren. Und dennoch endete die Übung im niedersächsischen Munster Ende 2022 mit einem Totalausfall. Beschaffungsvorgänge seien tatsächlich oft zäh und zeitraubend, bestätigt Ex-Militär Rose. Von der Konzeption bis zur Auslieferung des Kriegsgeräts würden meistens zehn, manchmal auch zwanzig Jahre vergehen. Selbst mit einem kräftig erhöhten Rüstungsetat könne da eine Ministerin die Prozesse nur „anschieben“. Dass es in der Bundeswehr an so vielen Stellen Mängel gebe, liege wiederum daran, wie vor Kriegsbeginn in der Ukraine gewirtschaftet worden sei. Vor dem Ukraine-Krieg, als der Rüstungsetat der Bundesrepublik weit unter den zwei Prozent, die man der NATO zugesichert hatte, gelegen habe und das Geld angeblich knapp gewesen sei, habe die Bundeswehr trotzdem Jahr für Jahr etwa eine Milliarde des vom Haushaltsausschuss bewilligten Geldes zurückgegeben, erklärt Rose. Sie sei nämlich gar nicht in der Lage gewesen, das Geld auszugeben, weil die entsprechenden Planungskompetenzen gefehlt hätten. Schuld daran sei das komplizierte Verfahren der Beschaffung im Zusammenspiel der vier Akteure: der militärischen Seite, die bestimmte Forderungen nach Waffensystemen stelle, dem zivilen Verwaltungsapparat, der das Ganze prüfen und organisieren solle, der Rüstungsindustrie, die für die Produktion verantwortlich sei, und der Politik in Gestalt des Parlaments und vor allem des Verteidigungsausschusses. „Man hat Haushaltspläne, man hat Ausschüsse im Parlament, denen müssen die Haushaltspläne vorgelegt werden, da müssen Ausgaben dann genehmigt werden. Diese Ausgabenforderungen, die man da stellt, müssen wohl begründet werden. Und dann gibt es natürlich im parlamentarischen Abstimmungsprozess jede Menge Kritik an bestimmten Projekten, sodass es gar nicht so einfach ist, wie sich das von außen darstellt.“

Manchmal gehe es aber auch ganz schnell, wie im Fall der F-35-Jagdflugzeuge. Die Luftwaffe habe sie unbedingt haben wollen und Lambrecht habe die Beschaffung offenbar anstandslos durch den Haushaltsausschuss gebracht, obwohl für den Erwerb der US-amerikanischen Bomber ungefähr 40 Prozent des Sondervermögens fällig werden würden.

Auch die dünne Personaldecke bei der Bundeswehr gehe auf die Zeit nach dem Kalten Krieg zurück, als nicht nur der Rüstungsetat gesenkt worden war, sondern auch die Truppenstärke von rund 600.000 nach der Wiedervereinigung auf zuletzt 200.000 reduziert wurde.

„Und solche Strukturen lassen sich natürlich nicht von heute auf morgen wiederherstellen“, sagt Oberstleutnant a.D. Jürgen Rose. „Und ich würde auch nicht von Misswirtschaft sprechen, sondern das war ja politisch beabsichtigt. Man wollte sozusagen das, was man immer als Friedensdividende bezeichnet, realisieren. Man hat gesagt, es gibt sehr, sehr viel sinnvollere Möglichkeiten, Steuergeld auszugeben, als es nun in Militärapparate, in militärische Gewaltorganisationen zu stecken.“

Der neue Mann auf dem „heißen Stuhl“

Wie am Dienstag bekannt wurde, soll der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius das Amt des Verteidigungsministers übernehmen. So richtig auf dem Zettel hatte ihn vorher wohl niemand gehabt – zumindest tauchte sein Name nicht in den Listen möglicher Kandidaten auf, die seit Freitag in den Medien kursierten. Da hießen die Favoriten Eva Högl, Lars Klingbeil und Hubertus Heil. Hoch gehandelt wurde zudem Siemtje Möller, die unter Lambrecht das Amt der Staatssekretärin innehatte. Für Jürgen Rose wäre diese Wahl auch nachvollziehbar gewesen – schließlich kenne sich Möller bereits in den Abläufen des Verteidigungsministeriums aus. Zudem sprach das Argument der Parität für eine weibliche Kandidatin. Dass die Wahl des Bundeskanzlers dann aber auf Boris Pistorius gefallen ist, den dieser für seine „Erfahrung, Kompetenz und Durchsetzungsfähigkeit“ lobte, scheint auch manche Abgeordneten überrascht zu haben. Olaf Scholz sei „eine echte Überraschung gelungen“, konstatierte etwa der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, Johannes Wadephul. „Nur leider keine gute.“ Der CDU-Politiker nannte die Personalie eine „Besetzung aus der B-Mannschaft“. Der Bundeskanzler zeige damit, dass er seine eigene Zeitenwende nicht ernst nehme, so Wadephul.

„Erneut spielen Sachkompetenz und Erfahrung mit der Bundeswehr keine Rolle.“ 6)

Gnädiger zeigten sich die Koalitionspartner. So gratulierte Finanzminister Lindner (FDP) dem neuen Kabinettskollegen Pistorius, betonte aber zugleich, dass bei der Umsetzung des Sondervermögens eine große Aufgabe bevorstehe. Wirtschaftsminister Habeck (Grüne) lobte Pistorius als erfahrenen Politiker, der in schwierigen Situationen über die nötige Nervenstärke verfüge. 7)

Um nicht ebenso schnell aus dem Amt auszuscheiden wie Christine Lambrecht, müsse der neue Verteidigungsminister vor allem darauf achten, keine Fehler zu machen, urteilt Militärexperte Rose. Entscheidend dabei sei die Kommunikation innerhalb des Hauses. Eine vernünftige Lagebeurteilung erfordere einen guten Planungsstab mit der entsprechenden Leitung. Der Verteidigungsminister müsse sich fragen, ob die Besetzung richtig sei, ihm einen guten Überblick verschaffe, die relevanten Informationen liefere. Wenn diese Punkte erfüllt seien, komme es nicht darauf an, ob er selbst über jedes Detail eines Kampfpanzers oder einer Korvette Bescheid wisse, so Rose.

Quellen und Anmerkungen:

Hören Sie zu dem Thema auch unser Interview mit Jürgen Rose 

1) https://www.n-tv.de/politik/Verteidigungsministerin-Lambrecht-bittet-Scholz-um-Entlassung-article23846807.html

2) https://www.spiegel.de/politik/deutschland/christine-lambrecht-spd-als-verteidigungsministerin-pleiten-pech-und-pannen-a-15c4613b-d099-4a96-b2ce-99e2705b5be1

3) https://www.merkur.de/politik/sondervermoegen-bundeswehr-daniel-guenther-kritik-spd-cdu-ukraine-krieg-lambrecht-christine-91996001.html

4) https://www.merkur.de/politik/munition-manoever-christine-lambrecht-nato-deutsche-bundeswehr-treibstoff-heer-zr-92023618.html

5) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/bundeswehr-bericht-vorschlaege-lambrecht-ukraine-krieg-100.html

6) https://www.welt.de/politik/deutschland/article243252025/Lambrecht-Nachfolger-Boris-Pistorius-wird-neuer-Verteidigungsminister.html

7) https://www.welt.de/politik/deutschland/article243252025/Lambrecht-Nachfolger-Boris-Pistorius-wird-neuer-Verteidigungsminister.html

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

+++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 18. Januar 2023 im Nachrichtenmagazin Hintergrund

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Bildquelle: Alexandros Michailidis / shutterstock


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