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Reise nach Russland in unsicheren Zeiten - Teil 1 Kaliningrad | Von Wolfgang Effenberger

Reise nach Russland in unsicheren Zeiten - Teil 1 Kaliningrad | Von Wolfgang Effenberger


Ein Reisebericht von Wolfgang Effenberger. 

Anfang September 2023 ließ das Deutsche Auswärtige Amt verlautbaren:

„Von Reisen in die Russische Föderation wird abgeraten! In der Russischen Föderation besteht auch für deutsche Staatsangehörige und Menschen mit deutsch-russischer Doppelstaatsbürgerschaft die Gefahr willkürlicher Festnahmen. Die Stadt Moskau und das südliche Umland waren in den letzten Wochen mehrfach Ziel von Drohnenangriffen. Diese haben bisher begrenzte Sachschäden verursacht. Weitere Angriffe können nicht ausgeschlossen werden. Gleiches gilt für mögliche Angriffe auf das öffentliche Verkehrsnetz, insbesondere den Zugverkehr.“(1) Das hörte sich dramatisch an, schreckte mich jedoch nicht ab.

Im September 1977, ein knappes Jahr nach meinem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst (1964-1976) in der Bundeswehr als Geheimnisträger (1973/74) hatte ich als junger Hauptmann den General-Defense-Plan / Ausschnitt Bayerische Grenze zur damaligen CSSR im Panzerschrank und war mit klopfendem Herzen über Studiosus-Reisen in die damalige Sowjetunion gereist. Es war die Zeit, als im Westen wieder eine Nachrüstungs-Diskussion einsetzte. Ich hatte schon damals Zweifel an der offiziellen Begründung für die Notwendigkeit der Nachrüstung, in der das Schreckgespenst einer akuten Bedrohung des Westens durch die Sowjetunion beschworen wurde und wollte mir selbst als Bauingenieur und Pionieroffizier einen Überblick vor Ort verschaffen. Von Stuttgart aus flog ich in gut 2 Stunden nach Moskau.

Nach der obligatorischen Stadtrundfahrt und dem Defilee an der Mumie von Wladimir Iljitsch Lenin im Mausoleum am Roten Platz ging es mit der Transsibirischen Eisenbahn in mehreren Tagen über Swerdlowsk (heute Jekatarinburg) - Nowosibirsk - Omsk - Krasnojarsk nach Irkutsk. Anschließend flogen wir von Irkutsk in das inmitten Sibiriens gelegene Bratsk. Von dort aus erfolgte dann der Rückflug in über 8 Stunden nach Moskau - die vierfache Strecke Stuttgart - Moskau! Entlang der Transsibirischen Eisenbahn machten die Industrieanlagen in der damaligen Sowjetunion einen weitgehend maroden Eindruck. In Irkutsk dann die große Überraschung: Auf dem Flugfeld glänzten in der Morgensonne die modernsten zivilen Transportflugzeuge und dahinter die neuesten MIG-Kampfjets.

Das war für mich ein Zeichen dafür,  dass die Sowjetunion damals nicht in der Lage war, einen längeren Krieg zu führen, aber durchaus fähig, mit ihrer modernen Luftwaffe Europa noch in Bedrängnis zu bringen.

Bereits Anfang Februar 1978 warnte ich bei einer Reserveoffiziers-Tagung, die sich ausschließlich mit Argumenten für die Nachrüstung beschäftigte, vor dieser gefährlichen Fehlentwicklung. Zum „heißen“ Krieg kam es dann gottlob nicht, da der ehemalige Präsident der UdSSR Michail Gorbatschow wenige Jahre später auf die USA zuging und schließlich dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ zustimmte.

Ein zweiter Besuch führte mich 2017 nach St. Petersburg (dem ehemaligen Leningrad), just in jener Woche, in welcher der 100. Jahrestag der historischen „Oktober-Revolution“  (1917) gefeiert wurde. Inzwischen gibt es übrigens ausreichende Indizien dafür, dass diese Revolution ein von anglo-amerikanischen Eliten angestoßenes soziales, politisches und wirtschaftliches Experiment und somit Teil einer umfassenden Planung für eine Neue Weltordnung war. Aus diesem Grund veranstaltete der vom Anthroposophen und Historiker José Garcia Morales geleitete Humanus Verlag Basel/Moskau(2) vom 2. bis 7. November 2017 einen Kongress in St. Petersburg mit den Themen: Schicksalsjahr 1917 (2017?); Russische Revolution; die Dreigliederung des Menschen und der Gesellschaft; Grundlagen für eine „goetheanistische“ Kultur-Brücke zwischen dem deutschem und dem russischem Sprachraum. Auf diesem Kongress hielt ich zwei Vorträge zur US-Geopolitik und leitete eine Arbeitsgruppe. Das Interesse an Russland war bei mir wegen des geopolitischen Hintergrunds immer sehr groß.

Mein erst kürzlich in den Ruhestand gegangener Cousin (Dr.-Ing. Maschinenbau, RWTH Aachen) war in den letzten Berufsjahren als Customer Quality Manager weltweit für eine süddeutsche Firma tätig. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte ebenfalls die enge Zusammenarbeit und Unterstützung mit der eigens gegründeten Firmen-Niederlassung in Jekaterinburg.  Über ca. 15 Jahre waren so sehr persönliche und vertrauensvolle deutsch-russische Verbindungen entstanden, die neben diversen zurückliegenden Reisen nach Moskau nun auch zu einem Besuch in der Niederlassung Jekaterinburg führen sollten.

Seine Einladung, mitzufahren, nahm ich sofort an. Ende Juni 2023 beantragten wir das Visum, das drei Wochen später vorlag. Mein Cousin plante die Reise akribisch. Sie sollte uns heuer am 10. September 2023 per Bahn von Bautzen nach Elbag (ehemals Elbing) führen, von dort aus mit dem Taxi nach Kaliningrad und dann mit dem Flieger nach Jekaterinburg bringen, unserem  Hauptreiseziel. Durch die aus den Geschäftsbeziehungen meines Cousins erwachsenen Freundschaften sollte ich - wenn auch nur ausschnittweise - einen Einblick in die gegenwärtige Situation Russlands bekommen.

Am Nachmittag des 9. September 2023 begaben wir uns im reizvollen Bautzen auf den Kornmarkt, um an einem mit viel Umsicht und Friedensliebe geplanten Festival teilzunehmen - ein umfangreiches und buntes Programm mit viel Musik, Tanz aber diesmal auch mit einigen hochkarätigen inhaltlichen Beiträgen und einer Podiumsdiskussion.

Am nächsten Morgen ging es per Bahn weiter, über Frankfurt/Oder nach Elbag, wo wir erst gegen Abend eintrafen. Wir logierten in einem großartig restaurierten Hotel in der prächtigen Innenstadt, die im Zweiten Weltkrieg offensichtlich kaum gelitten hatte.

Am 11. September 2023 holte uns ein Taxi aus Kaliningrad ab. Der Grenzübertritt an der weitläufigen Abfertigungsanlage - Grenzverkehr gab es kaum - verlief auf beiden Seiten reibungslos. Die Fahrt durch das leicht hügelige und grüne Ostpreußen - Teilstücke der Reichsautobahn waren noch gut zu erkennen - war entspannend. Dörfer oder Weiler waren von der Autobahn aus jedoch kaum auszumachen. Quartier wurde im Kaiserhof bezogen.

Im Bild rechts: der wiederaufgebaute Kaiserhof

Die 1896 erbaute Synagoge - am Bildrand links - war im Stil des Eklektizismus und Historismus nach Vorbildern des Wormser und Aachener Doms entworfen worden. Sie wurde - ebenso wie der Königsberger Dom auf der Kneiphof-Insel - im Zweiten Weltkrieg nur teilweise zerstört.

Königsberger Dom auf der Kneiphof-Insel

In den Nächten vom 26. auf den 27. sowie vom 29. auf den 30. August 1944 entfachte die britische Royal Air Force mit insgesamt 360 schweren viermotorigen Bombern ein Inferno in Königsberg. (3) Die britischen Luftkriegsstrategen hatten im Rahmen ihres „Demoralisierungs-Bombardements“ die Großstadt Königsberg unter dem Decknamen „Blenny“ (Schleimfisch) im Visier.

Beim britischen Bombenangriff mit dem durch Spreng- und Brandbomben gezielt ausgelösten Feuersturm auf die dicht bebauten historischen Areale Altstadt, Löbenicht und Kneiphof wurden diese fast vollständig in Schutt und Asche gelegt. Der Feuersturm machte eine Flucht aus den Kellern unmöglich, Feuerwehr und Luftschutz waren machtlos. Zerstört wurden sämtliche historischen Gebäude mit ihrer unersetzlichen Ausstattung, zwölf Kirchen, das Schloss, die alte und die neue Universität mit vielen Instituten und Kliniken, das Kneiphöfsche Rathaus (das seit 1927 das Stadtgeschichtliche Museum war), das Opernhaus, die Staats- und Universitätsbibliothek, das malerische Speicherviertel, Zeitungsgebäude, die seit 1722 bestehende Buchhandlung Gräfe sowie Unzer und etwa die Hälfte aller Schulen. Auch die Geburtshäuser von Johann Georg HamannE. T. A. HoffmannEduard von Simson und Hermann Goetz und das Haus in der Löbenichtschen Langgasse, in dem Heinrich von Kleist den „Zerbrochenen Krug“ vollendete, wurden vernichtet.(5) Etwa 200.000 Königsberger wurden durch die Bombenangriffe obdachlos und in der Umgebung der Stadt in Notquartieren untergebracht. Die Zahl der Toten wird auf über 5.000 geschätzt. Die Opfer wurden in Massengräbern beerdigt. Militärische Ziele, wie Kasernen, der Festungsgürtel, Bahnhöfe und Gleisanlagen, wurden bei diesem Luftangriff ausgespart.6) So auch die militärisch wichtigen Hafenanlagen.

Auch diese Hubbrücke hatte den Krieg weitgehend überstanden. Der erste Zug befuhr die Brücke am 1. Oktober 1889. 1929 wurde sie mit der Errichtung der neuen Reichsbahnbrücke außer Betrieb genommen, blieb aber für den Katastrophenschutz erhalten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie restauriert, ist inzwischen aber außer Betrieb.

Die zur Dom-Insel führende Brücke scheint das Inferno überstanden zu haben. Unbeschädigt blieb auch das Grabmal von Immanuel Kant im seitlichen Anbau.

Dieser Philosoph war unter anderem Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg. Sein kritischer Denkansatz „Sapere aude“ (lat. „Habe Mut, weise zu sein!“ Im Sinn von Immanuel Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“) scheint heute wichtiger denn je zu sein.

Im Tokioter Tempel der Philosophen (Tetsugaku-dō) hängt seit über 100 Jahren ein Bild mit dem Titel "Die vier Weltweisen" mit der Darstellung von Buddha, Konfuzius, Sokrates und Kant.

Seitentrakt mit Grab von Immanuel Kant 1724-1804, geboren und gestorben in Königsberg

Im Dom tägliche Orgelkonzerte

Mit Anerkennung muss festgestellt werden, dass die russischen Stadtplaner sich sehr viel Mühe geben, die Silhouette der Altstadt von Königsberg wieder auferstehen zu lassen.

Moderner Straßenzug am Pregel

Die Hoffnung stirbt zuletzt: Friedenstauben auf der Pregel-Mauer

Am 13. September 2023 fuhren wir mittags mit dem Taxi zum ca. 20 km nordöstlich von Kaliningrad gelegenen Flughafen Chrabrowo, auf dem 2019 an die 2.300.000 Passagiere abgefertigt wurden.(7)

Nach 15.00 Uhr ging es dann mit einem Airbus in Richtung Jekatarinburg - der größten Stadt im Ural, die inoffizielle „Dritte Hauptstadt Russlands“ und zugleich pulsierende Metropole der Region Swerdlowsk. Dort kamen wir nach 22.00 Uhr an - dabei drei Zeitzonen überfliegend.

Quellen und Anmerkungen

Wolfgang Effenberger, Jahrgang 1946, erhielt als Pionierhauptmann bei der Bundeswehr tiefere Einblicke in das von den USA vorbereitete „atomare Gefechtsfeld“ in Europa. Nach zwölfjähriger Dienstzeit studierte er in München Politikwissenschaft sowie Höheres Lehramt (Bauwesen/Mathematik) und unterrichtete bis 2000 an der Fachschule für Bautechnik. Seitdem publiziert er zur jüngeren deutschen Geschichte und zur US-Geopolitik. Zuletzt erschienen vom ihm „Schwarzbuch EU & NATO“ (2020) sowie "Die unterschätzte Macht" (2022)

 

1) https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/russischefoederationsicherheit/201536 2) Seit August 2017 veröffentlicht der Humanus Verlag in Moskau das russisch-sprachige Nachrichtenblatt «Anthroposophie in der Welt» (Антропософия в мире) mit den Schwerpunkten Goetheanismus, Anthroposophie, Dreigliederung und Zeitgeschehen. Das monatlich per E-Mail versandte Blatt richtet sich an interessierte Leser vor allem im russischenKulturraum, vom Baltikum bis Kasachstan, aber auch in Westeuropa 3) https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/orte/koenigsberg-kaliningrad; https://www.kreiszeitung.de/lokales/diepholz/bassum-ort51127/siebenjaehriger-erlebt-bombenhagel-12945490.html 4) Fritz Krauskopf (1882–1945) - F. Bistrick: Königsberg in Rauch und Asche[1]; Fritz Krauskopf: Königsberg lebt weiter - Dokumentarfotos aus der Zeit 1939 bis 1945 (1954) Bild gemeinfrei 5) E. Weise, G. Mannke in: Königsberg Lexikon. Würzburg 2002, S. 14 6) Gerfried Horst: Die Zerstörung Königsbergs. OEZ-Verlag, Berlin 2014. ISBN 978-3942437-25-7. S. 154–155, S. 277–278 7) https://koenigsberger-express.com/2020/11/kaliningrader-flughafen-feiert-jubilaeum/ +++

Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

+++ Bildquelle: shutterstock


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