Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.
Es zeichnet sich immer mehr ab, dass Russland auf Grund seiner erfolgreichen Anti-Terror-Einsätze in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik (CAR) und zuletzt auch zunehmend in Mali die lange Machtprojektion westlicher neokolonialer Länder in Afrika beenden könnte. Der Grund liegt in den westlich geprägten Jahrzehnten erfolgloser militärischer Einsätze gegen den Terror in Afrika, mit denen der Westen eigentlich weniger den Terrorismus bekämpfte, als vielmehr seine Bedeutung als militärische Kraft projizierte. Nun kommt da eine private Söldnerorganisation und kommen russische Waffen und innerhalb weniger Jahre wird erledigt, was jahrzehntelang vor sich hin terrorisierte. Während so Russland die Rolle des militärischen Unterstützers in Afrika übernimmt, kommt China die Rolle des wirtschaftlichen Entwicklers auf Basis des chinesischen Erfolgsmodells zu. Infrastruktur und Industrialisierung werden nun durch China vorangetrieben, was über Jahrzehnte von den ehemaligen Kolonialländern versprochen, aber nie realisiert wurde, weil man nur an der Extraktion von billigen Rohstoffen und Arbeitskräften interessiert war. Aber dieser PodCast soll auch andere Aspekte der neuen Rolle Russlands in der zukünftigen Weltpolitik beleuchten, welche einem deutschen Medienkonsumenten sonst kaum so von den Qualitätsmedien vermittelt wird.
Zunächst noch einmal kurz eine Erklärung zu der entstehenden neuen Weltordnung. Sie wird aus drei Blöcken bestehen. Hier die Unterstützer eines schwindenden Hegemons, den USA, welche sich teilweise wie Opferanoden verhalten, um das schwankende Imperium zu halten. Dann steht dem eine multipolare Weltordnung gegenüber, die geprägt ist von win-win-Beziehungen selbständiger, souveräner Staaten. Was multipolar bedeutet, habe ich schon oft genug erklärt. Als dritte Gruppe wird sich noch eine gewisse Zeit die Gruppe der blockfreien Staaten halten. Diese ist nicht zu vergleichen mit dem früheren Verbund blockfreier Staaten, sondern besteht aus solchen Ländern, welche nun versuchen, zu beiden Blöcken gute Beziehungen zu unterhalten.
Allerdings tut das Imperium alles, um den letzten der drei Blöcke in den Verbund des Multipolarismus zu treiben, zuletzt durch die Androhung von Sekundärsanktionen, sollten sie weiter nicht gehorsam Sanktionen gegen Russland verhängen.
Russland in Afrika
Zweifelsohne sind für die Entwicklung dieser Dreiteilung Russland und China, zunehmend auch der Iran, die treibenden Kräfte. Zurück zur Rolle Russlands in Afrika kommend, hat der russlandfreundliche Analyst Andrew Korybko eine interessante Bestandsaufnahme(1) veröffentlicht.
Er berichtet, dass Somalias oberste Priorität die vollständige Wiederherstellung seiner Souveränität sei, die das Land durch den Sieg über Al Shabaab erreichen will. Dadurch würde der Abzug der internationalen Streitkräfte gewährleistet, die derzeit unter dem Vorwand der Bekämpfung von Al Shabaab im Land stationiert seien, und schließlich die Lösung der Somaliland-Frage. Alles, was dazu beitragen könne, wie z. B. russische Waffen und die mögliche Ausbildung durch Wagner, würde begrüßt werden.
Dann führt er aus, dass der russische Außenminister Sergej Lawrow in Somalia den Medien gegenüber bekräftigt habe, den Bedarf der somalischen nationalen Armee mit Ausrüstung, die sie zum Kampf gegen den Terrorismus benötigen, zu befriedigen. Diese Bemerkung, so Korybko, sei viel wichtiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Zunächst einmal sei die Lieferung von militärischer Ausrüstung in der Regel auch mit Ausbildungsprogrammen verbunden, was auf eine Vertiefung der militärischen Beziehungen hindeute. Sollte es dazu kommen, bestehe eine glaubwürdige Chance, dass mehr als nur russische Streitkräfte involviert sind, denn Wagner habe sich in Afrika bereits einen beeindruckenden Ruf für seine Dienste im Bereich der Sicherheitserschaffung erworben, was sich auf Taktiken und Strategien zur Bekämpfung hybrider Kriegsführung bezieht, die darauf abzielen, nationale Demokratiemodelle vor solchen Bedrohungen zu schützen.
Dieser Gruppe sei es bereits gelungen, die Zentralafrikanische Republik (ZAR) zu stabilisieren, und sie mache derzeit auch Fortschritte bei der Unterstützung des neuen antiimperialistischen Mali. Frankreich und die USA seien wütend darüber, dass Russland die Souveränität fragiler afrikanischer Staaten stärke, weshalb sie nun ihren eigenen hybriden Krieg gegen Wagner in Afrika führen, u. a. durch desinformationsgesteuerte Sanktionen, die als Einfallstor für andere, direktere Formen der Einmischung wie die Bewaffnung regierungsfeindlicher Gruppen dienen sollen.
Somalia habe sich von diesen ausländischen Druckkampagnen offensichtlich nicht abschrecken lassen, obwohl es in den vergangenen 15 Monaten seit Beginn der Sonderoperation vor der UN-Generalversammlung gegen Russland gestimmt habe. Dies spreche für den Pragmatismus Mogadischus, das immer noch zu schätzen weiß, welch wichtiger Sicherheitspartner Moskau aufgrund seiner positiven Erfolgsbilanz in der Zentralafrikanischen Republik und Mali sein könnte. Ebenso zeigt es, dass auch der Kreml pragmatisch sei, denn er hätte die Zusammenarbeit mit Somalia in diesem Bereich nach dem Votum der UN-Generalversammlung ablehnen können.
Das ostafrikanische Land möchte seine Sicherheitspartnerschaften weiter diversifizieren, zu denen derzeit enge Beziehungen zur Türkei und zu seinem Verbündeten Katar gehören, während die Beziehungen zu den Vereinigten Arabischen Emiraten vor kurzem eine Annäherung erfahren hätten, und die Beziehungen zu den USA weiterhin kompliziert seien. Aus somalischer Sicht mache es durchaus Sinn, Russland eine Chance zu geben, bei der Lösung seiner ernsten Sicherheitsprobleme zu helfen.
„Für Russland wäre ein Erfolg, an dem die USA gescheitert sind, ein Prestigegewinn, zumal dies beweisen würde, dass seine Dienste der ‚demokratischen Sicherheit‘ eine entscheidende Rolle bei der Beendigung eines der längsten Konflikte Afrikas gespielt haben. Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin deutete auf Telegramm an, dass einige seiner Kämpfer bald nach Afrika zurückkehren könnten, was die Spannungen mit dem Verteidigungsministerium entschärfen und dazu führen könnte, dass die kampferprobtesten Truppen der Welt die somalische Nationalarmee ausbilden, wenn sie im Rahmen eines Pauschalangebots dorthin geschickt werden.“
Niemand, so der Autor weiter, sollte sich zu große Hoffnungen machen, aber sollte es zu Fortschritten kommen, würde dies zur Stärkung des Horns von Afrika beitragen. Somalias oberste Priorität sei die vollständige Wiederherstellung seiner Souveränität durch den Sieg über Al Shabaab, wodurch der Abzug der internationalen Streitkräfte gewährleistet werde. Alle verantwortlichen regionalen Akteure würden von jedem Schritt Somalias in diese Richtung profitieren, insbesondere Äthiopien und Kenia, die von Al Shabaab bedroht seien und sogar Truppen in ihr gemeinsames Nachbarland entsandt haben, um diese Gruppe zu bekämpfen. Sie und die anderen Mitglieder der "Übergangsmission der Afrikanischen Union in Somalia" (ATMIS) sollten sich bis Dezember 2024 vollständig zurückziehen, aber die Staaten würden sich viel sicherer fühlen, meint Korybko, wenn Somalia bis dahin bedeutende Fortschritte bei der Terrorismusbekämpfung gemacht hätte.
Wenn dieses erste Ziel nicht erreicht werde, bliebe das Szenario einer ausländischen Intervention für immer wie ein Damoklesschwert über Somalia hängen, ganz zu schweigen von der Unmöglichkeit, die Somaliland-Frage jemals auf die eine oder andere Weise zu lösen. Eine solche Analyse ließe den Schluss zu, dass die von Russland bekräftigte waffentechnische Unterstützung Somalias im Kampf gegen den Terrorismus und das damit verbundene Szenario der Einbeziehung von Wagner-Ausbildungsdiensten in ein Pauschalangebot auf den Versuch hinauslaufe, den somalischen Staat vollständig wiederherzustellen.
Russlands Beziehung zu Indien
Schon seit ewigen Zeiten rüsten die USA Indien auf, um das Land als Gegenspieler zu China einsetzen zu können. Wie schnell darüber hinweg gesehen wurde, dass das Land Atomwaffen entwickelte, und sogar dann in der Atomtechnologie durch US-Know-How unterstützt wurde, ist nur ein Beispiel dafür, wie die USA agierten. Auch bei Waffenkäufen wurde immer wieder versucht mit Zuckerbrot und Peitsche auf die indischen Regierungen einzuwirken, sich von den USA abhängig zu machen. Was aber nie richtig zündete. Russland blieb immer ein wichtiger Rüstungslieferant für Indien. Inzwischen ist Indien wirtschaftlich so stark geworden, dass es eine immer stärkere Unabhängigkeit für sich beansprucht. Zuletzt deutlich geworden in der Zurückweisung von Forderungen, Russland zu sanktionieren.
Russlands Beziehung zu Indien war zuletzt geprägt durch Versuche der USA, die russisch-chinesische Zusammenarbeit als Bedrohung Indiens darzustellen. Was aber nicht fruchtete, da sich Russland in einigen Fragen hinsichtlich Grenzkonflikten eindeutig auf die Seite Indiens gestellt hatte. Was von China pragmatisch gesehen und akzeptiert worden war, und von Indien sehr wohl verstanden wurde. Nun berichtet Korybko von einer weiteren russisch-indischen Annäherung auf kulturellem Gebiet.
Korybko meint, dass die komplementäre Entwicklung Russlands und Indiens zu Zivilisationsstaaten eine Rückbesinnung auf ihre traditionellen soziokulturellen Systeme mit sich bringe, weshalb die ähnliche Philosophien vertretenden Persönlichkeiten Tolstoi und Gandhi an Bedeutung gewinnen. Außenpolitisch würden diese beiden Großmächte ihre weltweit bekanntesten Denker „umarmen“, indem sie „die friedliche Integration Eurasiens anstreben, die sich in Russlands größerer eurasischer Partnerschaft und Indiens prinzipieller Neutralität im neuen Kalten Krieg manifestiert“.
„Die Eröffnung des "Russisch-Indischen Kultur- und Bildungszentrums von Leo Tolstoi und Mahatma Gandhi" in der Dwarka-Schule in Neu-Delhi und der Schule Nr. 1409 in Moskau, die Mitte Mai im Beisein des stellvertretenden russischen Bildungsministers stattfand, ist ein Meilenstein in den bilateralen Beziehungen. Auch wenn es auf den ersten Blick nur darum geht, die soziokulturellen Beziehungen zwischen den beiden Völkern zu stärken, gibt es noch andere wichtige Aspekte dieser Entwicklung.“(2)
Gandhi und Tolstoi seien in der ganzen Welt für ihre ähnlichen Ansichten über Moral, Gewaltlosigkeit, Frieden, Spiritualität und traditionelle Werte bekannt, was erkläre, warum sie zu ihren Lebzeiten miteinander korrespondierten. Die Sensibilisierung für die verwandten Perspektiven dieser Denker bringe nicht nur ihre Völker einander näher, sondern liefere auch die philosophische Grundlage für ihre strategische Partnerschaft.
Nun baut Korybko auf dem Narrativ des friedlichen angeblichen Pazifisten Gandhi auf, was natürlich irreführend ist. Gandhi hat Gewalt sehr wohl eingesetzt. Aber er setzte die Gewalt des Gegners gegen sich selbst und seine Anhänger ein, um in der Bevölkerung des Angreifers und der Welt Sympathien für den Angegriffenen zu erzeugen, um so psychischen Druck auf den Angreifer auszuüben. Eine Technik, die natürlich verlangt, dass ein Mindestmaß an Ethik und Moral beim Angreifer besteht, und dass die Welt noch nicht abgestumpft und durch Propagandamedien beherrscht ist. Aber das weiter auszuführen, würde den Rahmen dieses Formates sprengen. Und die Wahrnehmung von Werken und Persönlichkeiten ist ja inzwischen wichtiger als die dahinter liegenden Fakten. Kommen wir also zurück zu dem Artikel von Korybko.
Er schreibt, dass die philosophische Ähnlichkeit von Gandhi und Tolstoi wichtiger sei denn je, und zwar im gegenwärtigen Kontext des globalen Systemwechsels zur Multipolarität, dessen jüngste Phase vor 15 Monaten mit dem Beginn der russischen Sonderoperation begann und in deren Verlauf der Westen einen beispiellosen Druck auf Indien ausgeübt habe, sich von Moskau zu distanzieren. Bisher habe sich der südasiatische Staat jedoch geweigert, dies zu tun, und zwar gerade wegen des Einflusses, den die Philosophie Gandhis in dieser chaotischen Phase der internationalen Beziehungen auf seine große Strategie ausübe.
Indien beabsichtige, sich friedlich in eine Art von Staat zurückzuverwandeln, was eine Rückkehr zu der historischen Rolle bedeute, die es Jahrtausende lang gespielt habe, bevor das Weltsystem das westliche Modell der Nationalstaaten adaptierte, das erst seit einer vergleichsweise kurzen Zeitspanne von knapp zwei Jahrhunderten in Kraft ist. Dies entspreche dem Trend der Zeit, denn alle wichtigen Akteure bewegen sich in diese Richtung, auch Russland, das sich heute stolz als eigenständige eurasische Zivilisation von anderen abgrenze.
Die Neutralität Indiens sei eindeutig gandhianisch, da sie einen ausgewogenen Ansatz gegenüber internationalen Konflikten wie dem Stellvertreterkrieg zwischen der NATO und Russland verfolge, der Indien in die beste Position versetze, friedliche Lösungen zu vermitteln, indem es sich auf keine Seite schlage. Sein philosophisches Vermächtnis habe die politischen Entscheidungsträger beeinflusst, ihre pragmatische Politik der Blockfreiheit trotz des Drucks des Westens beizubehalten, was seither den globalen Süden dazu inspiriert habe, dem Beispiel Indiens zu folgen, nachdem er die strategischen Vorteile gesehen hat, die es daraus gezogen hat.
Gemeint sind damit sicher die günstigen Energiepreise und zusätzliche Gewinne durch Verkauf von verarbeiteten russischen Rohstoffen an westliche Länder, sowie der Ersatz westlicher Güter durch indische Produzenten für den russischen Markt.
Die sich daraus ergebende Rolle Indiens als unersetzliche ausgleichende Kraft im globalen Systemwandel, so Korybko weiter, werde durch sein anhaltendes Engagement für den Ausbau der strategischen Beziehungen zu Russland ermöglicht, ohne welche beide Länder durch die Umstände gezwungen wären, zu Juniorpartnern der USA bzw. Chinas zu werden. Ein solches Ergebnis könnte die Zweiteilung der internationalen Beziehungen in Gang setzen, die in der Folge die Souveränität jedes Landes einschränken würde.
Diese gegenwärtige strategische Partnerschaft bei der Beschleunigung multipolarer Prozesse in Eurasien, stehe ganz im Einklang mit den Philosophien von Gandhi und Tolstoi. Sie ziele darauf ab, möglichst vielen Menschen ein Höchstmaß an Gerechtigkeit zukommen zu lassen, indem sie ihnen die Chance gibt, ihre Zukunft in der neuen Weltordnung, die sich gerade aufbaut, selbst zu gestalten. Diese Möglichkeiten wären nicht gegeben, wenn Russland und Indien nicht über komplementäre große Strategien verfügten.
Diese seien: „… von Gandhis und Tolstois ähnlichen Ansichten über Moral, Gewaltlosigkeit, Frieden, Spiritualität und traditionelle Werte beeinflusst. Nicht umsonst schlug Premierminister Modi im September 2019 während seiner Teilnahme am Östlichen Wirtschaftsforum in Wladiwostok als Ehrengast von Präsident Putin vor, dass diese Giganten als Inspiration für den umfassenden Ausbau ihrer Beziehungen dienen sollten.“(2)
Dreieinhalb Jahre später, erklärt dann der Artikel, also Anfang März dieses Jahres, habe der russische Außenminister Lawrow während einer diesen beiden Persönlichkeiten gewidmeten Ausstellung in Neu-Delhi gesagt, dass ihre Ideen dazu beigetragen hätten, dass ihre jeweiligen Länder zusammenarbeiten, um "eine gerechtere und demokratischere, polyzentrische Weltordnung" aufzubauen. Dies bestätige, dass Gandhi und Tolstoi in der Tat die philosophische Grundlage für die russisch-indische strategische Partnerschaft bilden, was wiederum beweise, dass ihr Einfluss auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen unauslöschlich sei, soweit der begeisterte russlandfreundliche Analyst.
Russlands Ansehen in der Welt steigt
Entgegen der Meinung westlicher Qualitätsmedien ist das Ansehen von und der Respekt vor der russischen Föderation seit dem Einsatz seiner Armee in der Ukraine gestiegen, nicht gefallen. Wer außer Medien, welche der NATO nahe stehen, die Weltpolitik verfolgt, wird nicht umhin können, das zu bestätigen. Ein Ausdruck der Hochachtung drückt sich in der Beschreibung des indischen Ex-Diplomaten M.K. Bhadrakumar über die Schlacht um Bhakmut bzw. Artemovsk aus.
Er schreibt(3), dass die Operation 224 Tage dauerte und sich zu einer epischen Schlacht entwickelt hatte. Die Ukraine habe einen hohen Blutzoll für den Versuch gezahlt, Bakhmut zu halten, was später als "Meat Grinder" bezeichnet worden sei. Amerikanische Analysten haben 25 ukrainische Brigaden und mindestens 9 Bataillone und 5 Regimenter aufgelistet - eine geschätzte Truppenstärke von mindestens 120.000 Mann - die von Kiew in die Schlacht geworfen wurden. Bei einer geschätzten Verlustquote von 70 % hätte die Ukraine über 70.000 Tote und Verwundete zu beklagen. Das sei eine verheerende Niederlage.
Die konventionelle Militärdoktrin besage, dass eine Armee, die eine verschanzte Truppe angreift, mindestens dreimal so viele Soldaten benötige wie die verteidigende Truppe in den Befestigungsanlagen. Aber die Wagner-Kämpfer, die 32.000 Mann stark waren, standen einer NATO-Vertretertruppe gegenüber, die fast viermal so groß und mit modernen Waffen ausgerüstet war.
Der Schock über die vernichtende Niederlage seien US-Präsident Joe Biden und dem ukrainischen Präsidenten Wladimir Zelenski ins Gesicht geschrieben gewesen, als sie sich wenige Stunden nach Erscheinen der Kreml-Erklärung in Hiroshima den Medien stellten. Beim Ablesen eines vorbereiteten Textes hätte Biden in einer deutlichen Kehrtwende angekündigt,
dass die USA "einige neue gemeinsame Anstrengungen mit unseren Partnern unternehmen werden, um ukrainische Piloten an einem Kampfflugzeug der vierten Generation wie der F-16 auszubilden".
In der Zwischenzeit habe die Ukraine in einer Reihe von aufsehenerregenden Zwischenfällen begonnen, Ziele in Russland mit von den USA und Großbritannien gelieferten Waffen zu beschießen. Es habe sporadische Artillerie- und Himars-Raketenangriffe auf russische Zivilisten in Grenzstädten gegeben, zwei Drohnenangriffe auf den Kreml und britische Storm Shadow-Marschflugkörperangriffe auf Ziele in Russland. In einem Fall kam es in der vergangenen Woche zu einem grenzüberschreitenden Überfall in der Region Belgorod mit von den USA gelieferten Fahrzeugen und Waffen. Keiner dieser Angriffe kann jedoch als "game changer" bezeichnet werden. Hinzufügen müsste man noch die Angriffe von dieser Woche durch 8 Drohnen gegen Moskau.
Während die USA und der Rest der NATO so tun, als wüssten sie nichts von diesen Angriffen, schreibt der Autor, sei die wichtigste Tatsache, dass die Ukraine Zielinformationen erhalte, die nur von NATO-Geheimdiensten stammen können. Damit sei die jahrzehntealte rote Linie aus der Zeit des Kalten Krieges durchbrochen worden, die besagte, dass weder die USA noch Russland direkt oder indirekt das Gebiet der anderen Seite angreifen würden. (Selbst während des afghanischen Dschihad in den 1980er Jahren habe man sich an diese Leitlinien gehalten).
Das werde Konsequenzen haben. Das erste Anzeichen dafür sei die Nachricht gewesen, dass in Weißrussland bereits Atomwaffen stationiert werden und Verteidigungsminister Sergej Schoigu in Minsk war, um das erforderliche Abkommen über die Logistik der Stationierung zu unterzeichnen. Biden habe am Freitag nach seiner Rückkehr aus Japan gegenüber Reportern erklärt, dass seine Reaktion auf die russische Stationierung "extrem negativ" sei.
In Wirklichkeit gehe es Moskau jedoch darum, Belarus mit einem Abschreckungspotenzial gegen unüberlegte Handlungen der NATO auszustatten, wie z.B. das Abschneiden des Zugangs zu Kaliningrad. Übrigens haben auch die USA seit vielen Jahren Atomwaffen auf europäischem Boden gelagert.
Aber ein Krisenherd könne immer entstehen. Die bevorstehende NATO-Übung mit dem Codenamen Air Defender 23 (12.-23. Juni) werde die bedeutendste Militärübung sein, die jemals über dem europäischen Luftraum durchgeführt wurde, und die umfangreichste Einsatzübung von Luftstreitkräften in der Geschichte des westlichen Bündnisses - unter Beteiligung von 25 NATO-Ländern, 10.000 Militärangehörigen und etwa 220 Flugzeugen.
Larry Johnson, ein bekannter amerikanischer Blogger und ehemaliger CIA-Analyst, sagte:
"Eine Trainingsoperation dieser Größe und dieses Ausmaßes vor dem Hintergrund verschärfter Spannungen in der Region ist wie das Anzünden eines Streichholzes in einem Benzintank."
Dennoch bereite sich das russische Militär auf weitere Operationen vor, um die Befreiung des Donbass zu vollenden, nachdem es die Kontrolle über Bakhmut erlangt hat, einen wichtigen Verkehrsknotenpunkt, über den bisher die gesamte ukrainische Logistik entlang des Donezker Bogens bis nach Sewersk lief.
„Hier werden die Wagner-Kämpfer für weitere Operationen durch reguläre russische Kräfte ersetzt. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow sagte am Freitag in einem Interview im russischen Fernsehen: ‚Es ist schwer zu sagen, wo die Grenze ist... Offensichtlich nimmt das Ausmaß der direkten und indirekten Beteiligung der Länder des kollektiven Westens an diesem Konflikt von Tag zu Tag zu. Das kann den Konflikt in die Länge ziehen, aber es wird das Blatt nicht drastisch wenden. Es kann den Lauf der Dinge überhaupt nicht ändern. Russland wird die Operation fortsetzen, und Russland wird seine Interessen auf die eine oder andere Weise durchsetzen und die gesetzten Ziele erreichen.‘"(3)
Mehr dazu im Anhang(4).
Diese Worte eines nicht in dem Konflikt als Partei agierenden neutralen Beobachters drücken höchsten Respekt und Hochachtung vor der Diplomatie und dem Widerstand aus, den Russland gegenüber der NATO aufbringt. Es spiegelt auch gut die Meinung vieler Beobachter außerhalb des NATO-Meinungs-Narrativs wieder. Es deutet an, welche wichtige Rolle Russland in der neuen multipolaren Welt spielen wird.
Anhang und Quellen:
Der Autor twittert zu aktuellen politischen Themen unter https://twitter.com/jochen_mitschka
(1) https://korybko.substack.com/p/russian-arms-and-speculative-wagner
(2) https://korybko.substack.com/p/gandhi-and-tolstoy-provide-the-philosophical
(3) https://www.indianpunchline.com/post-bakhmut-scenario-in-ukraine-war/
(4) In der Zwischenzeit habe Russland eine intensive Bombardierungskampagne durchgeführt, um es Kiew zu erschweren, die für die Einleitung und Aufrechterhaltung einer Offensivoperation über einige Tage hinaus erforderliche Mannstärke und Feuerkraft aufzubringen, und intensiviert seine Operationen insgesamt, um die militärischen Fähigkeiten der Ukraine zu dezimieren.
Die "bekannte Unbekannte" ist, wie sich der US-Wahlkampf 2024 auf den Verlauf des Krieges auswirken werde. Bidens Kurswechsel bei den F-16 könne als Kurzschlussreaktion betrachtet werden. Selbst General Mark Milley, der Vorsitzende der Generalstabschefs, gibt zu, dass die F-16 keine "Wunderwaffe" sei.
Unterdessen untersuche Russland weiterhin die Absichten der USA. In einem Interview mit der renommierten Zeitschrift International Affairs sagte der stellvertretende russische Verteidigungsminister Sergej Rjabkow am Freitag: "Die herrschende Elite der USA hat sich unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit in hohem Maße auf einer antirussischen Grundlage konsolidiert. Meiner Meinung nach entwickelt sich die Situation zu einer mit gesteigerten Gewalt".
Rjabkow, der im Außenministerium der ranghöchste Ansprechpartner für die Beziehungen zu den USA ist, habe jedoch hinzugefügt: "Egal, wie sich die Dinge entwickeln, wir sind bereit, den Dialog mit demjenigen aufrechtzuerhalten, der (in den USA) an die Macht kommt und an der Macht bleibt."
Der Verzicht der Ukraine auf den Beitritt zur NATO und zur EU und die Rückkehr zu einem neutralen, bündnisfreien Status werde daher eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Friedensprozess in der Ukraine bleiben. Die große Frage sei, wie weit die NATO auf ihrem bevorstehenden Gipfel im Juli in Vilnius gehen werde; würde dies die Vollmitgliedschaft der Ukraine bedeuten oder etwas anderes? Die Wahrscheinlichkeit, dass in Vilnius große Entscheidungen getroffen werden, könne vielleicht als gering eingeschätzt werden.
Interessanterweise habe sich der Kreml instinktiv für die Idee eines Telefonats mit Putin "zu gegebener Zeit" erwärmt, die der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz kurz nach seiner Rückkehr vom G7-Gipfel in Hiroshima in Berlin geäußert hat. Berlin habe sich stets gegen ein überstürztes Vorgehen der NATO in Bezug auf die Mitgliedschaft der Ukraine ausgesprochen.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
+++ Bildquelle: M-Production / shutterstock
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