Ein Kommentar von Rainer Rupp.
Laut Eigenwerbung des britischen Nachrichtenmagazins „The Economist“ erklären in der aktuellen Ausgabe „Wolodimir Selenskij und seine Generäle, warum der Krieg in der Schwebe hängt“. „Der Winterkrieg“ lautet der Aufmacher auf dem Titelblatt der am 17. Dezember erschienenen Ausgabe des weltweit gelesenen Magazins. Der Titel der Ausgabe spielt zwar auf den Krieg zwischen Finnland und der Sowjetunion zwischen 1939 und 1940 an, aber im Heft geht es hauptsächlich um drei Interviews „mit den Männern, die die Reaktion der Ukraine auf die russische Aggression gestalten“, so der Economist. Interviewt wurden neben Präsident Selenskij und General Saluschnij auch noch der Chef der ukrainischen Landstreitkräfte, General Oleksandr Sirskij.
Außer der Forderung nach noch mehr Geld und Waffen sagte Selenskij nichts, was besonders erwähnenswert ist. Und seine Generäle Saluschnij und Sirskij strahlen nicht gerade große Zuversicht aus. Noch vor kurzem hatten sie sich gebrüstet, von den Russen Territorium zurückerobert zu haben und den Krieg zu gewinnen. Aber in ihren Interviews, braucht man nicht sehr tief zwischen den Zeilen zu graben, um zu erkennen, dass zumindest die militärische Führung der Ukraine den Ernst der Lage erkannt hat und darüber sehr besorgt ist. Am deutlichsten hat das der bullige, selbstbewusste General Saluschnij ausgesprochen, der – wie Pressefotos gezeigt haben - an einem metallenen Armband ein silbernes Hakenkreuz trägt.
Im Interview hat General Saluschnij ohne Umschweife erklärt, dass er
- 700.000 Männer in Uniform hat, aber nur 200.000 von ihnen eine Kampfausbildung haben. Das ist genau das, was der US-Militärstratege Douglas McGregor vor kurzem gesagt hatte, dass tatsächlich nur nämlich noch 190.000 Mann der ukrainischen Armee tatsächlich kämpfen können.
- Saluschnyj bestätigt auch, dass der ukrainischen Armee die Munition ausgeht.
- Auch die schweren Waffen seien knapp geworden und er brauche dringend 300 Panzer, 500 Artilleriegeschütze und 800 Schützenpanzer.
- Dass er mit den beiden Brigaden, die ihm zu diesem Zweck in der Region zur Verfügung stehen, keine Offensive in Richtung Melitopol durchführen kann.
- Er spricht davon, dass seine Armee blutet.
- dass "die russische Mobilisierung erfolgreich war, … dass das russische Militär seine Stärke gezielt und effektiv aufbaut".
- Er war sich sicher, dass die Soldaten, die in Russland mobilisiert wurden, zweifellos kämpfen werden
- dass die Russen bei Bedarf relativ schnell eineinhalb Millionen Mann zusätzlich mobilisieren können.
- Er ist sich auch sicher, dass es eine große russische Winteroffensive geben wird. Er glaubt offenbar, dass das im Februar passieren wird, während der ukrainische Verteidigungsminister Reschnikow davon ausgeht, dass die russische Offensive bereits im Januar beginnt.
Dann warnte er, wenn der Westen nicht bedeutend mehr moderne Waffen und Material liefert, dann könnte schon bald der Moment gekommen sein, an dem er vor seinen ukrainischen Soldaten die Art von Ansprache halten müsse, die der finnische General Gustaf Mannerheim, Befehlshaber des finnischen Militärs im Winterkrieg im März 1940 an seine Truppe gerichtet hatte, nachdem Finnland von der Sowjetunion besiegt worden war.
In dieser Rede hatte Mannerheim gesagt, dass Finnland von den Armeen einer Großmacht überwältigt worden sei und dass das eigene Militär nicht mehr in der Lage war, effektiven Widerstand zu leisten, weil die Russen an Soldaten, Waffen und Material haushoch überlegen waren. Hauptsächlich aber sei die verzweifelte Lage der Finnen deshalb entstanden, weil die von England und Frankreich versprochene Hilfe nicht gekommen war.
Saluschnyjs Erwähnung von Mannerheims Rede im März 1940 war natürlich ein Wink mit dem Zaunpfahl an die Kriegstreiber des kollektiven Westens, dass er womöglich schon bald wie Mannerheim seinen Soldaten erklären müsste, dass all ihre Opfer umsonst waren und dass die Ukraine den Krieg verloren hat. Das war eine Kehrtwende zu den bisherigen Beteuerungen, dass der ukrainische Sieg über Russland immer unmittelbar bevorstand.
Dann sagte Saluschnij, dass der westliche Stellvertreterkrieg in der Ukraine an einer Weggabelung angekommen ist, bei dem sich NATO und der kollektive Westen entscheiden muss, entweder jetzt voll und vorbehaltslos in den Krieg einzusteigen, oder der Krieg in der Ukraine ist verloren. Und um nicht zu verlieren braucht es schleunigst die auf seiner Wunschliste aufgeführten schweren Waffen: 300 Panzer, 500 Geschütze und 800 Schützenpanzer. Eigentlich will er so ziemlich alles, was die NATO noch auf Lager hat und noch mehr. Und wenn er all diese schönen Dinge bekäme, dann könnte er die Russen auf die Front-Linien vom 23. Februar 2022 (also auf die Positionen von vor Beginn der russischen Spezial-Operation) zurückdrängen. Aber Saluschnij hat schon doppelt und dreimal so viel Waffen im Kampf gegen die Russen verbrannt und im Gegensatz zur Ukraine sind die Russen heute viele stärker als zu Beginn des Konfliktes.
Allerdings weiß auch Saluschnyj, dass die westlichen Waffen-Lager leer sind und die NATO-Staaten nur noch das haben, was sie für ihre eigene Verteidigung brauchen. Außerdem könnten die ukrainischen Soldaten gar nicht schnell genug für eine effiziente Bedienung der westlichen Waffen angelernt werden. Unausgesprochen sagt Saluschnyj deshalb dem Westen: Also Ihr lieben Leute, jetzt müsst Ihr eure Worte mit Taten untermauern. Ich will nicht nur eure Waffen, sondern auch eure Soldaten, die sie bediene, weil sonst die Russen nicht nur bis Kiew kommen, sondern auch ganz andere Dinge in Richtung EU und NATO unternehmen könnten.
Tatsächlich könnte diese Argumentationslinie mit den westlichen Kriegstreibern abgesprochen sein, denen Saluschnij „gute Gründe“ liefert, in US/NATO auf den vollen militärischen Einstieg in den Ukraine zu drängen. Auch in Vietnam, als der Krieg nicht so lief, wie man sich das in Washington vorgestellt hatte, hieß es: wir müssen mit viel mehr eigenen Soldaten einsteigen, sonst verlieren wir Vietnam und ganz Südostasien. Und tatsächlich wurde kurz darauf eine halbe Million amerikanischer Soldaten nach Vietnam geschickt.
Allerdings haben die West-Kriegstreiber und ihre ukrainischen Schützlinge ein großes Problem: Sie sind Opfer ihrer eigenen Propaganda-Erfolge. Sie haben alle seit Wochen und Monaten gesagt, dass sie den Krieg gewinnen, sie hatten diese erfolgreiche Offensive in Charkiw, sie hatten die erfolgreiche Offensive in Cherson, die Russen sind vor ihrer angeblichen eine Million-Mann-Armee davongelaufen und all solche Dinge. Und jetzt müssen sie natürlich zurückrudern, weil die Realität sie einholt und sie müssen eingestehen, dass die Dinge alles andere als rosig aussehen. Das ist eindeutig die Botschaft dieses konzertierten Interviews im Economist.
Es ist ein Versuch, von den Propagandaerfolgen wegzukommen und endlich einige dieser Realitäten anzuerkennen und um westlichen Politikern und - in gewissem Maße - der westlichen Öffentlichkeit zu sagen, dass sie tatsächlich kurz davorstehen, den Krieg in der Ukraine zu verlieren. Der einzige Weg, wie sie das Blatt wenigsten teilweise noch wenden könnten, wäre, wenn es Kiew gelingen würde, die USA und die NATO mit in den Krieg hineinzuziehen.
Allerdings beginnen immer mehr Menschen in Washington, in London, in Brüssel, in Berlin und Paris zu erkennen, dass sie sich mit Russland einen Gegner ausgesucht haben, der scheinbar mühelos 1 1/2 Millionen zusätzliche Soldaten aufbieten kann und der allein in den letzten Wochen 200 T-90 Panzer und vieles mehr in den Donbass geliefert hat. Die Russen können westliche Eskalationen vor ihrer Haustür jederzeit übertreffen.
Natürlich besteht dennoch ein großes Risiko, nämlich darin, dass es nicht nur bei Waffen und Munition bleibt, die der Westen in die Ukraine schickt, sondern dass US/NATO auch eigene Soldaten schicken, die die Waffen bedienen und vor Ort kämpfen, um die Niederlage von der Ukraine zu verhindern. In Kreisen westlicher Kriegstreibern wird bereits offen für eine direkte Kriegsbeteiligung in der Ukraine geworben. Bereits jetzt möchte man die möglichst schleichend herbeiführen, nämlich mit der Lieferung immer komplexerer Waffensysteme, wie demnächst das Patriot Luftabwehrsystem. Für dieses System sind lange Anlernzeiten nötig, aber das ukrainische Militär braucht diese Waffen jetzt!
Bei einem solch engen Zeitfenster drängt sich die Entsendung von NATO-Soldaten in die Ukraine zur Bedienung dieser Waffensystem als Problemlösung geradezu zwingend auf. Das sei der einzige Weg, so die Kriegstreiber in Washington, Brüssel und Berlin, den Zusammenbruch der Ukraine und damit den Verlust der globalen Vormachtstellung der USA ihrer regelbasierten Weltordnung zu verhindern, von der schließlich alle westlichen Eliten maßlos profitieren. An diesen Hebeln hat Saluschnij mit seinem Interview im Economist erfolgreich gespielt.
Die Kriegstreiber, die in den Regierungen des kollektiven Westens in den so genannten Machtministerien (Militär, Geheimdienste, Außenpolitik) Schlüsselpositionen besetzen und auch schon mal als „Tiefer Staat“ bezeichnet werden, können und wollen das Scheitern ihres ukrainischen Abenteuers unter keinen Umständen in Betracht ziehen. Politisch und karrieremäßig sind sie viel zu stark in das Projekt zur Ruinierung und Aufteilung Russlands in mehrere, besser zu handhabende, pro-westliche Staaten investiert. Wenn ihr Krieg in der Ukraine scheitern würde, dann wäre das eine persönliche Katastrophe für diese Leute.
+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: Larich / shutterstock
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