Tagesdosis

Unsere Art zu leben | Von Roberto de Lapuente

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Jetzt heißt es gegen Putin und Russland unsere Art zu leben zu verteidigen. Wir müssen all jene abwehren, die uns angreifen, nur weil wir sind wie wir sind. Wir sind schließlich ein Westen von Lebensart.

Ein Kommentar von Roberto de Lapuente.

Gut, dass wir so ausgeglichene und sachliche Massenmedien haben. Sonst wäre uns wahrscheinlich die ganze Tragweite des infamen Angriffs der Russen auf die Ukraine entgangen. Die Russen nämlich, so lesen, sehen und lauschen wir, haben es auf unseren Westen abgesehen, auf unsere Werte und Wohlstände – ja, auf unseren freien, ausgewogenen, weitsichtigen Way of Life. Ginge es nur um die Ukrainer oder auch bloß um Rohstoffe: Darüber könnte man ja noch reden. Aber es geht darum ja gar nicht; die Ukraine ist Europa – und Europa: Das sind wir! Daher sind wir jetzt alle Ukrainer. Die echten Bio-Ukrainer wollen nämlich unbedingt unsere Art zu leben übernehmen. Und weil Putin da nicht mitspielt, sagt er indirekt direkt: Eure Art kann ich nicht leiden.

Wie kann er das nicht mögen? Wir sind reich, sind fair, sind gerecht. Wir verteilen um, schaffen Mehrwerte, verteilen Mehrwerte, sind transparent, ehrlich und umsichtig. Dafür haben wir uns charakterfeste Institutionen und ein tadelloses Wirtschaftssystem erschaffen. Was soll denn an der Davoser Art zu leben, an der Brüsseler Lebensart, an der Art und Weise wie die EZB, die NATO oder die UN verfahren, falsch sein?

Unsere Art zu streben: Junge Weltführer

Unsere Art zu leben, das heißt: Korrupten Post- und Fassadendemokratien Treue zu schwören und jeden zu diskreditieren, der es unternimmt, diese Ordnung beseitigen zu wollen. Die Vereinten Nationen indes, dort wo sich der Westen trifft, ist mittlerweile schön bieder öffentlich-privat verpartnert, Konzerne zahlen die Auslagen und geben den Ton an, haben sich gar das Recht verbrieft, die Richtlinien der UN zu bestimmen. Unsere Art zu leben, das heißt auch: Einem internationalen Mediennetzwerk zu folgen, das unter Hinweis auf die widerlichen Staatssender der Anderen, seine unglaubliche Unabhängigkeit und Freiheit betont. Drehtür-Effekte und Überschneidungen zwischen Politik und Medien, Medien und Wirtschaft, Wirtschaft und Medien und zwischen allen zusammen und andersherum: Unsere Savoir-vivre muss man einfach beneiden!

Noch so eine westliche Lebensart: Das Weltwirtschaftsforum, das eigentliche Parlament der Welt – in dem ganz unkompliziert, ohne Interessensabwägung und ohne lästige demokratische Grundwerte Leitlinien verfügt, exekutiert und den nationalen Regierungen aufgedrückt werden. Wer sonst kommt auf die Idee, sich ständig als freier Teil der Welt zu feiern, als Weltdemokratie, während hinter den Kulissen der Feudalismus tobt – unter Ausschluss von solchem Pöbel wie dich und mich natürlich?

Stiftungen regeln die Weltbelange, weisen den Weg, sie geben vor, wie die Welt von morgen nicht nur aussehen könnte, nein wie sie aussehen muss. Young Global Leaders werden von ihnen gefördert und gefordert, an die Spitze ihrer Völker gesetzt, um dort so zu wirken, wie es die Weltregierung aus den Schweizer Bergen, wie es das milliardenschwere Stiftungswesen sich ausmalt. Das Beste kommt noch: Solcherlei kurzen Einwürfe zu unserem schönen Wertewesten, über Davos, G8 oder Gates-Stiftung, werden per se als Verschwörungstheorie eingestuft. Obwohl es keinen Beleg dafür gibt, dass es sich bei der Nennung der Fakten um Verschwörung handelt – Verschwörung ist eigentlich nur im Spiel bei der Schaffung von Fakten, so wie sie die Legionen von Young and Old Global Streber anpeilen.

Unsere Art zu nehmen: Monopolisten

Und wir haben noch nicht mal von unserer Art zu leben gesprochen, wenn es um das Wirtschaften geht. Wie wir Eigenheime an der Börse verjuxen, Lebensmittel auf dem Parkett verteuern, wie wir uns um Kopf und Verstand spekulieren, sogar Scheiße in Aktienpakete schnüren. Jeder von uns kleinen Fischen, der mal davon träumt, einige Stunden ins Casino zu wollen, um mal einen kleinen Eindruck einer anderen Welt zu erlangen, muss nur die Augen aufmachen: Wir sind das Casino. Und es hat 24 Stunden sieben Tage die Woche geöffnet. Unsere Art zu leben macht Unternehmen an den Börsen unsäglich wertvoll, auch wenn an wirklichen materiellen Werten oft nur ein geringer Bruchteil vorhanden ist. Denn wir zahlen für Namen, für Erwartungen, für aufgeblasene Brands, für ein Logo, weil man etwas haben muss, weil es doch alle haben – und weil es Monopol ist.

Unsere Art zu leben wird immer mehr zu jener, wonach Wettbewerb von den Monopolisten abgelehnt wird. PayPal-Thiel sagte dereinst, dass Wettbewerb nur Verlierer produziere. Daher seien Monopole, die auf dem Markt wüten können ohne nach links und rechts gucken zu müssen, in jedem Falle die Zukunft. Klar, dass man diese Welt, in der kleine Unternehmen nicht mehr atmen können, unbedingt mit der Waffe in der Hand gegen den Despoten aus dem Osten verteidigen will. Schließlich geht es um Freiheit, verflucht noch eins!

Die Monopolisten haben die Corona-Maßnahmen nicht nur blendend gemeistert: Sie gingen als Gewinner heraus. Amazon, Facebook, Google haben massiv zugelegt. Der Finanzsektor sowieso. Nur die Realwirtschaft, insbesondere der Mittelstand, dort wo eigentlich wirkliche Werte geschaffen werden, sie verliert ihre Grundlage.

Unsere Art zu leben heißt eben auch, dass ein YouTube-Katzenvideo mehr Wert haben kann, als ein vom Schreiner produzierter Tisch, als die Arbeit einer Person, die eine andere pflegebedürftige Person versorgt.

Und das alles, während die großen Strukturen der Welt, wie sie werden soll nach Vorstellung mächtiger Damen und Herren, gesetzt und angewiesen werden, ohne danach zu fragen, was sich so ein Schreiner oder so eine Pflegekraft eigentlich für die Zukunft wünschen.

Unsere Art zu beben: Das Beste aller Systeme?

Durch und durch leben wir im besten System aller Zeiten. Unsere Lebensmittel sind so fein, da ist teilweise gar nichts mehr Essbares drin. Alles ist günstig von der Stange zu haben: Klamotten, Mobiltelefone, Flugreisen, medizinische Betreuung auf Kassenbasis, Lebensberatung. Die Nigerianer liefern uns liebend gerne Erdöl zu Vorzugspreisen – weil wir so gütig sind. Die, die auf seltenen Erden sitzen, lieben es geradezu, uns damit zu versorgen. Sie schicken aus purer Mitmenschlichkeit uns gegenüber sogar ihre Kinder in enge Schächte und Mienen. In Bangladesch fürchten sie sich nicht etwa vor Hochwasser, weil sie wirklich Angst um ihre Hütten hätten: Sie fürchten nur ihre Produktion preiswerter Webwaren einstellen zu müssen, wenn das Wasser steigt – und damit uns Lieferengpässen aussetzen zu müssen. Wir handeln, wir verteilen, wir machen die Welt gerechter, wir sind die Schöpfer der pax occidentalis, des westlichen Friedens.

Unsere Art zu leben bedeutet vor allem, so zu tun, als sei das, was wir hier haben, von so einzigartiger Schönheit und von so singulärer Güte, dass man besser gar keine Kritik daran üben sollte. Nur ganz böse Zungen, Miesepeter und Drecksäcke wagen sich daran, dieses westliche Imperium als eine neue Art von Diktatur zu skizzieren. Als Neo-Feudalismus. Als das vielleicht widerlichste Imperium aller Zeiten, das so tut, als sei es offen, liberal, barrierefrei, das aber an allen Ecken und Kanten abgeschottet, verbohrt und orthodox nachtritt. Ein Imperium, das sich gerne als ideologiefrei vorstellt, aber dabei ausblendet, dass es selbst bereits zu einer Ideologie verkommen ist: Einer Ideologie, die sich um jeden Preis retten will, weil sie spürt, wie ihr die Kräfte schwinden.

Wir beben förmlich vor Inbrunst, wenn man unsere Art zu leben angreift. Früher taten das die Islamisten. Wenn sie Anschläge verübten, stürmten Schattenmänner und Schattenfrauen dieses Wertewestens aus ihren bewachten Villenkomplexen und verkündeten, dass das mal wieder ein Angriff auf die westliche Art zu leben sei. Nun tun sie es wieder, ohne zu erklären, woraus diese Lebensart eigentlich besteht. Ist die überhaupt wert verteidigt zu werden? Wer möchte denn nicht für die Pläne von Milliardären sterben, die nach einem etwaigen erfolgreichen Krieg gegen Russland weiterbasteln an einer Welt, in der sie ohne Kontrolle, ohne Transparenz, aber dafür mit viel viel Profit und letztlich mit noch mehr Macht leben dürfen?

+++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 7. März 2022 auf dem Blog neulandrebellen.de +++ Bildhinweis: 4 PM production / shutterstock


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