Politisches Machtsymbol mit den Mitteln des Justizspruchs?
Ein Meinungsbeitrag von Eugen Zentner.
Als der Weimarer Familienrichter Christian Dettmar im April 2021 unter Verweis auf eine Kindeswohlgefährdung die Aussetzung der Masken-, Abstands- und Testpflicht an zwei Schulen anordnete, löste sein Urteil ein Beben aus, das über Juristenkreise hinausging. Die Reaktionen bildeten die gesellschaftliche Spaltung ab, wie sie sich in Folge der Corona-Maßnahmen seit März 2020 entwickelt hatte. Kritiker der harten Hygiene-Politik begrüßten das Urteil und freuten sich darüber, dass ein Richter endlich den Mut fasste, die Exekutive in die Schranken zu weisen. Bei den Maßnahmenbefürwortern stieß die Entscheidung auf Empörung. Sofort war von einem „Querdenker-Richter“ die Rede. Die Staatsanwaltschaft Erfurt, die wie alle Staatsanwaltschaften gegenüber dem Justizminister weisungsgebunden ist und mit einem Bein in der Exekutive steht, hatte Dettmar daraufhin angeklagt. Knapp zwei Jahre später ist nun das Urteil gefällt worden. Mit ihm kommt wieder jener gesellschaftliche Riss zum Vorschein, den auch das Ende aller Corona-Maßnahmen nicht kitten konnte.
Eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren, ausgesetzt auf Bewährung. Das hat die Strafkammer des Landgerichts Erfurt entschieden. Auf den ersten Blick erscheint das wie ein harmonisches Urteil in der Mitte, weil die Staatsanwaltschaft drei Jahre Haft und die Verteidigung ein Freispruch gefordert hatte. Doch die Maßnahmenkritiker sind unzufrieden. Dieses Mal sprechen sie von einem „Skandalurteil“. Es setze ein Fanal, schrieb etwa Alexander Christ von den Anwälten für Aufklärung auf Twitter. Das Urteil zeige unmissverständlich, „wie weit sich Deutschland von einem Rechtsstaat entfernt hat“. Christ hatte bereits zuvor in einem Tweet darauf hingewiesen, dass Dettmar gewissenhaft und unvoreingenommen gearbeitet habe, indem er sich Gutachten von Sachverständigen vorlegen ließ und sie genau prüfte.
Die Strafkammer des Landgerichts Erfuhrt sah das ein wenig anders. Zunächst einmal, so die Argumentation in der Urteilsbegründung, seien Familiengerichte nicht befugt, Anordnungen gegenüber Behörden zu treffen. Dafür fehle es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage. Viel gewichtiger als die Zuständigkeitsfrage sei jedoch Dettmars Voreingenommenheit beim Verfahren. Er habe einen Beschluss verfügt, „den er von vornherein so beabsichtigt hatte“, sagte der Vorsitzende Richter. Er habe nicht nur die Antragsteller zum Verfahren ermutigt, sondern auch die Gutachter selber ausgewählt, „um das Ergebnis, das Ihnen von vornherein vorschwebte, gutachterlich zu begründen“, so der Wortlaut in der Urteilsbegründung.
Doch die Richter ließen außer Acht, dass Dettmar im Verfahren den Freistaat Thüringen aufgefordert hatte, eigene (Gegen-)Gutachten vorzulegen. Dieser Aspekt dürfte den Verdacht der Voreingenommenheit zumindest relativieren. Allerdings sei jeder Richter ab einem bestimmten Zeitpunkt voreingenommen, wenn er sich mit einem Problem befasse, wie Dettmars Anwalt Gerhard Strate kurz nach der Urteilsverkündung zu bedenken gab. Nach der Rechtsprechung sei es jedoch so:
„Wenn ein befangener Richter entscheidet, ist immer noch die Frage zu stellen, ist denn die Entscheidung eine richtige gewesen oder eine falsche. Und diese Frage hat hier das Gericht an keiner Stelle beantwortet.“
Der Rechtsanwalt Christian Moser pflichtet Strache bei: Die Staatsanwaltschaft und das Gericht übersähen, „dass es für eine Rechtsbeugung nicht ausreicht, dass ein Richter möglicherweise schon im Vorfeld einer Verhandlung eine bestimmte Meinung zu dem betreffenden Thema hat. Realistisch betrachtet dürfte dies der Normalfall sein.“ Es führe auch nicht zur Rechtsbeugung, wenn ein Richter den Wunsch hat, eine bestimmte Rechtsfrage zu klären. „Solange er in der Sache eine feste Überzeugung hat, die nicht völlig unvertretbar erscheint, kann er sich um jedes Verfahren bemühen, wenn er es nur in zulässiger Weise entscheidet“, so Moser. Sein Kollege Carlos A. Gebauer setzt an diesem Punkt an und akzentuiert einen anderen interessanten Aspekt: Wäre Dettmar „von Amtswegen inhaltsgleich tätig geworden“, hätte das Gericht „eine Rechtsbeugung mithin nicht erkannt“.
Die Folgen des Urteils dürften laut Gebauer über das Schicksal Dettmars hinausreichen. „Denn auch jeder Staatsanwalt, der zu einer Anzeige ermutigt, begäbe sich dann vielleicht schon auf dünnes Eis.“ Wie heikel das Urteil tatsächlich ist, zeigen zahlreiche andere Gerichtsverfahren während der Corona-Zeit, als sämtliche Bürger wegen des Vorstoßes gegen die Maskenpflicht verurteilt wurden – von Richtern wohlgemerkt, die selber eine FFP2-Maske trugen, alle anderen im Gerichtssaal dazu verpflichteten und zusätzlich fünf Meter Abstand forderten. Bisweilen ging der Hygieneeifer so weit, dass Plexiglasscheiben und Luftwäscher aufgestellt werden mussten. Solche Richter ließen alle Beweisanträge abweisen. Nach der Definition des Landgerichts Erfurt im Urteil gegen Dettmar müssten diese Richter allesamt als vollkommen befangen angesehen werden, weil sie kein wirkliches Interesse an der Aufklärung hatten. Sie strebten ebenfalls ein Urteil an, dass ihnen von vornherein vorschwebte.
Heftige Kritik an der Entscheidung des Erfurter Landesgerichts übt auch das Netzwerk Kritische Richter und Staatsanwälte n.e.V. (KRiStA). Das Kollektiv führt drei Argumente an, warum es das Urteil einer „Niederlage des Rechtstaats“ gleichkomme. „Allein ein möglicher Rechtsfehler – auch ein (formaler) Fehler bei der Verfahrensführung – stellt aus Rechtsgründen noch keine Rechtsbeugung dar“, heißt es. Darüber hinaus hätten die Indiztatsachen für einen Vorsatz zur Rechtsbeugung weder ermittelt noch in der Hauptverhandlung nachgewiesen werden können. Die gerade noch zur Bewährung aussetzungsfähige Freiheitsstrafe in Höhe von zwei Jahren trage daher „den Anschein eines politischen Machtsymbols mit den Mitteln des Justizspruchs“.
Dieser letzte Aspekt ist bei der Betrachtung des Urteils gegen Dettmar nicht uninteressant. Schon kurz nach der Anklage im Jahr 2021 verstanden viele Richter die Strafverfolgung als Signal an sie, bloß nicht vom Kurs abzuweichen. In der Folge gab es kaum jemanden, der ein Urteil gegen die Maßnahmen-Politik fällte. Eine Aufklärung, ob sie überhaupt rechtmäßig war, konnte daher erst gar nicht stattfinden. So sieht es unter anderem der Rechtsanwalt Christian Moser. Für ihn habe das „brachiale Vorgehen gegen Dettmar“ lediglich den Sinn, „jegliche rechtliche Aufarbeitung der seinerzeitigen Corona-Maßnahmen zu unterbinden, um die damaligen Entscheidungsträger zu schützen“.
Sein Kollege Carlos A. Gebauer bringt das Problem noch besser auf den Punkt und dringt damit juristisch zum Kern der gesamten Rechtsprechung in Zeiten der Corona-Politik:
„Nach wie vor hoch fraglich ist, ob die zugrundeliegenden ‚Maßnahmen‘ selbst überhaupt legitim waren. Die bisherige Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes hierzu steht inzwischen unter harscher Kritik der Staatsrechtslehre: Durfte ein staatsorganisatorisch inexistentes Gremium in einem nicht förmlich geregelten Verfahren überhaupt Grundrechte einschränken und dabei die hergebrachten Denkgesetzte der Verhältnismäßigkeitsprüfung übergehen?
Wenn aber die Maßnahmen am Ende selbst gegen das Recht verstoßen hätten, wirft Gebauer die entscheidende Frage auf: „Kann dann deren (Teil-)Suspendierung das Recht beugen?“
Etwas emotionaler zeigt sich Alexander Christ, der zugleich die Antwort darauf liefert. Den Vorwurf der Erfurter Richter, Dettmar sei es darum gegangen, die Sinnlosigkeit Regierungsmaßnahmen gegen die „Coronapandemie“ darzustellen, kommentierte er auf Telegram so:
„Ja? Und? fragt man sich. Sie waren es: sinnlos. Und sie schädigten die betroffenen Kinder. Nur über diese hatte Dettmar zu urteilen. Und das tat er. Die Sinnlosigkeit der damaligen Maßnahmen gilt inzwischen als belegt, nur bei den Richtern in Erfurt ist diese Information noch nicht angekommen.“
Christian Dettmar hatte das Wohl der Kinder im Blick und muss nun dafür büßen. Das Urteil gegen ihn hat zur Folge, dass er seine richterliche Tätigkeit nicht wird weiter ausüben können. Er verliert sowohl seinen Beamtenstatus als auch seine Pensionsbezüge. Allerdings ist das Urteil noch nicht rechtskräftig. Eine Revision vor dem Bundesgerichtshof ist möglich. Die Staatsanwaltschaft wolle zumindest die Rechtsmittel prüfen. Auch die Verteidigung Dettmars strebt eine Revision in der nächsten Instanz an. Man denke nicht, „dass dieses Urteil Bestand haben kann“, so die kämpferische Ansage.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Ground Picture / Shutterstock.com
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