Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.
Es ist allgemein üblich, dass, wer versucht eine andere Sicht als das Narrativ darzustellen, sich erst einmal dazu legitimieren muss, indem er zum Beispiel „Russlands un-provozierter Angriffskrieg“ sagt, um behaupten zu können „ausgeglichen“ zu berichten. Wenn er Glück hat, vermeidet er so, als Putinknecht beschimpft, oder gar juristisch verfolgt zu werden. Aber auf der anderen Seite der Berichterstattung ist eine solche Rechtfertigung nicht notwendig. Also niemand schreibt „Aber Putin musste…“. Deshalb ist dieses Verhalten eine einseitige Unterwerfung unter die „Regeln“. Hier also wieder die Sicht aus dem Globalen Süden, ohne sich vorab Absolution durch „aber …“ zu erkaufen.
Tim Anderson war für mich so etwas wie ein Augenöffner. Er hatte für mich zum ersten Mal darauf hingewiesen, wie Kritik an der Regierung immer eingeleitet wurde „obwohl die Palästinenser…“. Und er verweigerte dies, da die Situation eindeutig ist. Israel hat Palästina in einem Angriffskrieg erobert und besetzt, Menschen vertrieben und betreibt weiter eine Politik der Vertreibung und Einverleibung von Gebieten, führt ein Regime der Apartheid in dem von ihm seit Jahrzehnten beherrschten Gebiet. Dieser Mut, das klar auszusprechen hat mich beeindruckt und beeinflusst.
Wer die Sicht der Bundesregierung, der NATO und der USA hören will, mag sich daher vertrauensvoll an die Massenmedien wenden, und wenn er dann einmal die Sicht des größeren Teils der Welt hören will, soll er gerne meine PodCasts hören oder lesen.
Man wirft mir u.a. vor, „zu übersetzen“ statt ein originärer Autor zu sein. Nun, da ich aus der Sicht des globalen Südens berichte, selbst aber meine Wurzeln in Deutschland verorte, möchte ich lieber solche Stimmen Gehör verschaffen, welche diesen biografischen „Fehler“ nicht haben.
Heute möchte ich aber zunächst einen Artikel der Washington Post erwähnen, den einige der Hardcore-Krieger in Deutschland vielleicht zum Nachdenken bringen könnte. (1) Denn der Außenminister der USA Blinken soll angeblich Russland territoriale Zugeständnisse in der Ukraine gemacht haben.
Zu den territorialen Zugeständnissen, die Blinken demnach vorschlug, gehören die Krim, der Donbass und die "Landbrücke zwischen der Krim und Russland" bei Saporoshje und Cherson. Westlich des Dnjepr, nördlich um Charkow und südlich um Odessa und Nikolajew habe Blinken zum ersten Mal die Zustimmung der USA zu einem "entmilitarisierten Status" für die Ukraine vorgelegt. Außerdem sollen die USA zugestimmt haben, die Stationierung von HIMARS, Schützenpanzern der USA und der NATO sowie von Abrams- und Leopard-Panzern auf einen Punkt in der Westukraine zu beschränken, von dem aus sie "als Abschreckung gegen künftige russische Angriffe manövrieren können."
Interessant ist, dass nun auch die Rand-Corporation, eine der wichtigsten politischen Lobbygruppen in den USA, die Jahrzehntelang indirekt für einen Krieg gegen Russland geworben haben, es sich nun anscheinend anders überlegen, weil, frei übersetzt „die Kosten und Risiken eines langen Krieges den möglichen Nutzen übertreffen“. (2)
Kommen wir nun von der Washington Post, die zwar neben der New York Times als die Vorbeter westlicher Meinungsmedienmacher gilt, trotz ihrer Falschmeldungen der Vergangenheit, zurück zu einem indischen Ex-Diplomaten, M.K. Bhadrakumar. Er beobachtet, wie andere Intellektuelle des Globalen Südens, dass sich die Gewichtung innerhalb der EU im Laufe des Ukraine-Konfliktes verschiebt, und wie sich die EU militarisiert. (3)
Die manichäischen Ängste der osteuropäischen neuen NATO-Mitglieder, also die Ängste, die sie aus der vereinfachten Schwarz/Weiß Sicht auf Russland haben, hätten sie näher an die USA und das Post-Brexit-Britannien herangeführt als an ihre natürlichen Verbündeten in Westeuropa, erklärt Bhadrakumar. Polen, das mächtigste Gebilde des Neuen Europa, investiere massiv in die Verteidigung, was das Land zur führenden Militärmacht in Europa katapultieren könnte.
Im Jahr 2022 habe Polen einen riesigen Waffenkaufvertrag mit Südkorea abgeschlossen: schwere Kampfpanzer (viermal mehr als Frankreich), Artillerie, Kampfjets, für 15 Milliarden Euro. Im vergangenen Monat habe Warschau außerdem einen Vertrag über den Kauf von zwei Beobachtungssatelliten aus Frankreich für 500 Millionen Euro unterzeichnet. Polen sei entschlossen, in den europäischen Angelegenheiten immer mehr an Bedeutung zu gewinnen.
Für Deutschland hingegen, das bisherige Machtzentrum Europas, sei der Krieg ein besonders sensibles Thema, und es sei in einer gewissen ständigen Selbstbefragung gefangen. Das Nazi-Erbe, die gewählte Abhängigkeit von russischem Gas und das Zögern, die ersten Waffen an die Ukraine zu liefern, würden Deutschland heute in die Qual der Wahl versetzen, wenn es um die Lieferung schwerer Rüstungsgüter gehe.
Dennoch, so der Artikel weiter, nutzte Deutschland die russische militärische Sonderoperation in der Ukraine, um am 27. Februar eine drastische Erhöhung seiner Militärausgaben auf mehr als 2 % seiner Wirtschaftsleistung anzukündigen und damit eine Reihe politischer Veränderungen vorzunehmen. Die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz habe beschlossen, 100 Milliarden Euro für militärische Investitionen aus dem Haushalt 2022 bereitzustellen. Der Autor nennt zur Einordnung der Zahl einen deutschen Verteidigungshaushalt von 2021 von 41 Milliarden Euro.
Um nicht zurückzubleiben, meint dann der Autor, habe Präsident Emmanuel Macron im Juni gesagt, dass der russische Einsatz in der Ukraine Frankreich in eine "Kriegswirtschaft" versetzt habe, von der er annehme, dass sie lange andauern werde. Dann habe er angekündigt, dass er das Parlament bitten werde, einen neuen Haushalt in Höhe von 400 Milliarden Euro für den Zeitraum 2024-2030 zu genehmigen, gegenüber 295 Milliarden Euro für 2019-2025.
Mit dem neuen Budget solle das französische Militär angesichts zahlreicher potenzieller neuer Bedrohungen modernisiert werden, habe Macron gesagt und hinzugefügt: "Nachdem wir die Streitkräfte instand gesetzt haben, werden wir sie umgestalten. Wir müssen es besser und anders machen".
Natürlich habe das geopolitische Erdbeben in der Ukraine ganz Europa erschüttert, und jedes Land prüfe seine Position und Rolle. Obwohl kein Land sein europäisches Engagement in Frage stelle, sei ein Gefühl der Orientierungslosigkeit spürbar. Scholz habe vor zwei Monaten in einem Essay in der Zeitschrift Foreign Affairs geschrieben, dass es „Zeit für eine Zeitenwende" sei, bei der Deutschland Verantwortung übernehmen müsse.
Am 20. Januar, so berichtet Bhadrakumar weiter, hätten dann Macron und der spanische Premierminister Pedro Sanchez einen neuen Vertrag über die Zusammenarbeit unterzeichnet, der als historischer Freundschaftsvertrag zur Erreichung gemeinsamer strategischer Ziele bezeichnet werde. Beide Länder hätten jedoch unterschiedliche Beweggründe. Frankreich wolle möglicherweise die europäische Unterstützung stärken, da es sich auf einen Streit mit den USA über die Milliarden Dollar an Subventionen für amerikanische Unternehmen im Rahmen des Inflation Reduction Act von Präsident Joe Biden vorbereite. Spanien strebe wahrscheinlich eine stärkere Rolle im europäischen Machtzentrum an und schätzt, dass ein engeres Bündnis mit Frankreich dabei helfen werde.
Der Autor glaubt nicht, dass der Schwung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in Zukunft beherrschend für die EU-Politik sein werde. Frankreich und Deutschland seien auf diesen Krieg in der Ukraine nicht vorbereitet gewesen, während die Länder an der Ostfront gegenüber Moskau schon früh wussten, was passieren wird. Die politischen Kosten dieser Diskrepanz seien noch nicht bezifferbar. Deshalb habe sich das Kräfteverhältnis in Europa verändert.
Derzeit werde Scholz von seinen Verbündeten zunehmend unter Druck gesetzt, schwere Rüstungsgüter aus deutscher Produktion in die Ukraine zu liefern oder anderen Ländern die Wiederausfuhr aus ihren eigenen Beständen zu gestatten. Die USA führten diese „Pantomime“, wie Bhadrakumar es nennt, von hinten an.
Washington sei entschlossen, den Sarg für die deutsch-russische Annäherung endgültig zu vernageln und die Wiederbelebung der deutsch-französischen Achse zu stören, um gemeinsam eine europäische Antwort auf Bidens räuberisches Subventionsgesetz zu finden und Wege zum Schutz der europäischen Industrie zu finden. Wirtschaftlich stehe sehr viel auf dem Spiel, da eine Abwanderung der europäischen Industrie nach Amerika, angelockt durch US-Subventionen, wahrscheinlich sei.
Der indische Ex-Diplomat bestätigt hiermit indirekt die erfolgreiche Politik der USA auf Kosten Deutschlands und der EU: Zerstörung des Marktes Russland für die EU, Zerstörung der günstigen Energiequelle durch Sprengung der Pipeline, Gewinnung von abhängigen Kunden für Energie und Militärtechnik, und schließlich Abwerben der Industrie mit eigener billigerer Energie.
„Frankreich und Deutschland sind sehr skeptisch, dass Washington sinnvolle Änderungen am Plan für grüne Investitionen vornehmen wird. Es geht um ‚das Ideal eines vereinten Europas, das sein Schicksal selbst in die Hand nimmt‘, wie Macron heute bei der Zeremonie an der Pariser Sorbonne mit Scholz an seiner Seite sagte. Scholz sagte seinerseits: ‚Heute streben wir Seite an Seite danach, die Souveränität Europas zu stärken.‘ Sie bekräftigten die ‚amitié indestructible‘ (unzerstörbare Freundschaft).“ (3)
In der Tat, so führt der Artikel weiter aus, habe Polen ausgerechnet heute seine Waffen auf Deutschland gerichtet, während Macron und Scholz in Paris das 60-jährige Bestehen des Elysee-Vertrags feierten, um ihr Bündnis mit einem Tag voller Zeremonien und Gespräche über Europas Sicherheit, Energie und andere Herausforderungen zu festigen. Der polnische Ministerpräsident Morawiecki sei dabei mit Scholz hart ins Gericht gegangen und habe gedroht, eine „kleinere Koalition" europäischer Länder zu bilden, wenn Deutschland der Übergabe von Leopard-2-Panzern nicht zustimme.
Er habe Scholz vorgeworfen, „dem Potenzial des deutschen Staates nicht gerecht zu werden“ und "die Aktionen anderer Länder zu untergraben oder zu sabotieren". Morawiecki habe in unbändiger Wut getobt: "Sie (die deutschen Politiker) hofften, den russischen Bären mit großzügigen Verträgen zu verpfänden. Diese Politik hat sie in den Ruin getrieben, und bis heute fällt es Deutschland schwer, seinen Fehler einzugestehen. Wandel durch Handel ist zum Synonym für epochalen Irrtum geworden."
Der Krieg sei kurz vor dem Jahrestag des militärischen Eingreifens Russlands auf Europa übergeschwappt. Während Russland militärisch immer mehr die Oberhand gewinne und das Gespenst der Niederlage die USA und die NATO heimsucht, gerate Polen in Panik. Es stehe kurz davor, sein "verlorenes Territorium" in der Westukraine zurückzuerobern, falls und wenn dieses Land zusammenbrechen sollte - obwohl Stalin Polen mit mehr als 40.000 Quadratmeilen ostdeutscher Gebiete entschädigt habe.
Es sei unwahrscheinlich, dass Europa, insbesondere Deutschland, den polnischen Revanchismus mitmache. Allerdings, so möchte ich hinzufügen, ist noch unklar, ob diese Meinung Bhadrakumars sich auf die Bevölkerung oder die politische Führung des Landes bezieht. Diese weitreichenden politischen Manöver, so der Autor weiter, könnten als Versuch gesehen werden, sich auf die neue Welt des Krieges einzustellen und vielleicht auch, Europa auf die Welt nach dem Krieg vorzubereiten.
Nach dem Jahrestag der militärischen Intervention Russland fügt Bhadrakumar dann ein Resümee der Situation hinzu. (4)
1 Jahr Ukraine Eskalation
Die wahnhafte "westliche" Vorstellung der Moskauer Elite, Russland könne ein Dialogpartner des Westens sein, habe sich gründlich verflüchtigt, als Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel vor kurzem verblüffend erklärte, die Verhandlungen des Westens mit Russland über das Minsker Abkommen seien ein "Versuch, der Ukraine Zeit zu geben", und Kiew habe sie genutzt, "um stärker zu werden".
Moskau, so der Autor habe mit Bitterkeit und dem Gefühl der Demütigung reagiert, dass die russische Führungselite an der Nase herumgeführt wurde. Diese Erkenntnis wirke sich auf den Ukraine-Konflikt aus, der nun in sein zweites Jahr gehe. So sei die Annexion der vier ukrainischen Regionen Donezk und Lugansk [Donbass], Saporoschje und Cherson sowie der Krim, die etwa ein Fünftel des ukrainischen Territoriums ausmachen, nun eine vollendete Tatsache, und die Anerkennung dieser Tatsache durch Kiew sei eine Voraussetzung für künftige Friedensgespräche.
Der anfängliche Optimismus Moskaus im Februar/März, wonach "die höchste Kunst des Krieges darin besteht, den Feind zu unterwerfen, ohne zu kämpfen" (Sun Tzu), ist ebenfalls der Einsicht gewichen, dass die Biden-Administration den Krieg nicht so schnell beenden wird, bevor Russland nicht ausgeblutet und geschwächt ist. Dies führe zum Rückzug der Russen aus den Regionen Charkhov und Cherson, um eine gut befestigte Verteidigungslinie aufzubauen und sich einzugraben.
Putin habe schließlich die Forderung der Armeekommandeure nach einer Teilmobilisierung akzeptiert. Durch den daraufhin erfolgten Großeinsatz in der Ukraine und die Aufrüstung in Weißrussland befinde sich Russland zu Beginn des zweiten Kriegsjahres erstmals in einer militärisch überlegenen Position.
Der Kreml habe die notwendigen Mechanismen geschaffen, um die Rüstungsindustrie und die Wirtschaft zu mobilisieren, damit sie den Anforderungen der militärischen Operationen in der Ukraine gerecht werden. Langfristig gesehen werde ein historisches Ergebnis des Konflikts darin bestehen, dass Russland zu einer unangreifbaren Militärmacht werde, die mit der Roten Armee der Sowjetunion verglichen werden kann und der der Westen nie wieder die Stirn bieten wird. Das müsse sich aber erst noch einspielen.
Der Generalstabschef General Waleri Gerassimow habe in einem außergewöhnlichen Interview mit der Zeitschrift Argumenti i Fakti erklärt, dass der neu verabschiedete Entwicklungsplan der Streitkräfte den Schutz der Souveränität und der territorialen Integrität Russlands gewährleisten und "die Voraussetzungen für Fortschritte in der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung des Landes schaffen" werde.
Nach dem von Putin genehmigten Plan werden die Militärbezirke Moskau und Leningrad geschaffen, drei motorisierte Divisionen in den (im September annektierten) Oblasten Cherson und Saporoschje gebildet und ein Armeekorps in der nordwestlichen Region Karelien an der Grenze zu Finnland aufgestellt.
Nach interner westlicher Einschätzung laufe der Krieg für die Ukraine schlecht. Der Spiegel habe berichtet, dass der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) "in dieser Woche Sicherheitspolitiker des Bundestages in einer geheimen Sitzung darüber informiert hat, dass die ukrainische Armee derzeit täglich eine dreistellige Zahl von Soldaten in Kämpfen verliert". Der BND habe dabe den deutschen Abgeordneten mitgeteilt, er sei besonders "beunruhigt über die hohen Verluste der ukrainischen Armee im Kampf um die strategisch wichtige Stadt Bakhmut" (in Donezk) und habe gewarnt, dass "die Einnahme von Bakhmut durch die Russen erhebliche Konsequenzen hätte, da sie Russland weitere Vorstöße ins Landesinnere ermöglichen würde."
In einem Reuters-Bericht werde ein hochrangiger Beamter der Biden-Administration zitiert, der am Freitag vor einer kleinen Gruppe von Reportern in Washington sagte, es bestehe "eine hohe Wahrscheinlichkeit", dass die Russen die Ukrainer aus Bakhmut vertreiben würden, das von westlichen Militärexperten als "Dreh- und Angelpunkt" der gesamten ukrainischen Verteidigungslinie im Donbass bezeichnet wurde.
Andererseits hoffe die Biden-Administration, bis zum Frühjahr Zeit zu gewinnen, um das zerschlagene ukrainische Militär wieder aufzurüsten und mit modernen Waffen auszustatten. Die alten Waffenbestände aus der Sowjetzeit seien erschöpft, und die Ukraine müsse künftig mit Waffen beliefert werden, die in den NATO-Ländern im Einsatz sind. Das sei leichter gesagt als getan, und die westliche Rüstungsindustrie werde Zeit brauchen, um die Produktion aufzunehmen.
All die Prahlerei, Kiew bereite eine Offensive vor, um die Russen aus der Ukraine zu vertreiben, habe sich in Luft aufgelöst. Die Anzeichen deuteten darauf hin, dass eine russische Offensive an der südlichen Front begonnen haben könnte, die stetig auf die Stadt Saporoshje, ein wichtiges Industriezentrum der Ukraine, vorrückt. Diese Offensive hätte weitreichende Folgen. Die Eroberung der verbleibenden 25 % des Gebiets in der Oblast Saporoschje, die noch unter der Kontrolle Kiews steht, würde die Landbrücke zwischen der Krim und dem russischen Hinterland für eine ukrainische Gegenoffensive uneinnehmbar machen und die russische Kontrolle über die Häfen am Asowschen Meer (die das Kaspische Meer mit dem Schwarzen Meer und dem Wolga-Don-Schifffahrtskanal, der nach St. Petersburg führt, verbinden) stärken, abgesehen davon, dass der gesamte ukrainische Militäraufmarsch im Donbass und in den Steppen auf der Ostseite des Dnjepr dramatisch geschwächt würde.
Während der Krieg in das zweite Jahr geht, arbeite der Westen fieberhaft an Plänen - unter der Führung der Biden-Administration -, dem ukrainischen Militär bis zum Frühjahr schwere Panzer zu liefern, darunter auch deutsche Leopard-Panzer. Sollte dies geschehen, werde Russland mit Sicherheit mit Angriffen auf Versorgungswege und Lagerhäuser in der Westukraine zurückschlagen.
Am Donnerstag warnte Dmitri Medwedew, der Putin nahestehende ehemalige russische Präsident und stellvertretende Vorsitzende des mächtigen Sicherheitsrats, ausdrücklich: "Atommächte haben noch nie große Konflikte verloren, von denen ihr Schicksal abhängt."
Allerdings gebe es auch mildernde Faktoren. Mehrere Faktoren würden die Biden-Administration zwingen, sich zwischen einer riskanten Fortsetzung der Konfrontation mit Russland oder einer Verlangsamung der durch die Ukraine verlaufenden Geldschneiderei zu entscheiden, indem sie ihre Gewinne mit dem Rückzug aus dem Projekt sichere. Dazu gehörten die Ergebnisse von Davos 2023 und des Treffens der NATO-Verteidigungsminister am 20. Januar in Ramstein sowie die parteiübergreifenden Streitigkeiten in Washington über den Haushalt und die Schuldenobergrenze der USA usw. Für das Zelenski-Regime bedeutet dies, dass die schönen Dinge des Lebens zu Ende gehen könnten.
Letzte Woche habe die einflussreiche russische Tageszeitung Iswestija einen prägnanten Aufsatz von Viktor Medwedtschuk veröffentlicht, dem langjährigen ukrainischen Parlamentsabgeordneten und Oligarchen-Politiker (der derzeit in Moskau lebt), in dem er feststellt, dass der Prozess der Auflösung des Regimes in Kiew "begonnen hat". Medwedtschuk hätte an "einen interessanten Trend" in der ukrainischen Politik erinnert. Präsident Poroschenko hatte den Frieden mit Russland in einer Woche versprochen, doch als er an der Macht war, erfüllte er die Minsker Vereinbarungen nicht und "verlor die nächste Wahl kläglich." Er wurde von Wladimir Zelenskij abgelöst, der ebenfalls eine Einigung mit Russland im Donbass versprach, stattdessen aber "die Personifizierung des Krieges" wurde. Das heißt, „dem ukrainischen Volk wird Frieden versprochen, und dann wird es betrogen". Die westliche Presse habe die Tatsache unter den Teppich gekehrt, dass Zelenskys Unterstützerbasis klein ist und es eine schweigende Mehrheit gebe, die sich nach Frieden sehnt.
Der Tod von Innenminister Denys Monastyrsky, einem langjährigen Berater Zelenskys, und seines ersten Stellvertreters Jewgeni Enin bei einem Hubschrauberabsturz in Kiew vor einer Woche unter mysteriösen Umständen werfe Fragen auf, da die ukrainischen Neonazi-Milizen von seinem Ministerium aus operieren. Nur einen Tag zuvor war überraschend der Rücktritt von Zelenskis Top-Berater Alexey Arestovich bekannt geworden, weil er das ukrainische Militär verunglimpft haben soll.
In Fernsehinterviews äußere Arestowitsch seither seine Zweifel an der Kriegsführung. Hinzu komme die Ermordung von Denis Kirejew, der ein wichtiger Teilnehmer an den Friedensgesprächen mit Russland im März war. Nach Korruptionsvorwürfen kam es zudem zu einer größeren personellen Umstrukturierung, von der ein stellvertretender Generalstaatsanwalt, der stellvertretende Leiter des Präsidialamtes, der stellvertretende Verteidigungsminister und bisher fünf Regionalgouverneure betroffen waren.
Abgesehen von diesen Unwägbarkeiten in Kiew gebe es noch einen weiteren Faktor: die Innenpolitik der USA, die sich dem Wahljahr 2024 nähert. Die Republikaner bestünden auf einer Prüfung der Dutzende von Milliarden Dollar, die für die Ukraine ausgegeben wurden - allein 110 Milliarden Dollar an Militärhilfe - und machen die Regierung Biden rechenschaftspflichtig. Der CIA-Chef William Burns habe Kiew einen nicht angekündigten Besuch abgestattet, angeblich um die Botschaft zu übermitteln, dass die US-Waffenlieferungen über den Juli hinaus problematisch werden könnten.
„Andererseits häufen sich die Enthüllungen über den Umgang von Präsident Biden mit Verschlusssachen, zu denen auch sensible Unterlagen über die Ukraine gehören könnten. Es ist noch zu früh, aber die 13-stündige FBI-Durchsuchung seines Wohnsitzes in Delaware am Freitag wirft neue Fragen zur Transparenz des Weißen Hauses in dieser Angelegenheit auf. Neue Entwicklungen im Dokumentenskandal könnten Bidens Unterstützung schmälern, da er sich darauf vorbereitet, seine Wiederwahl anzukündigen.“ (4)
Alles in allem könne man Medwedtschuks Prognose zustimmen, dass sich der Ukraine-Konflikt im zweiten Jahr seines Bestehens "entweder weiter ausbreiten und auf Europa und andere Länder übergreifen oder aber lokalisiert und gelöst werden wird". Soweit Bhadrakumar.
Vorschau
Nach der Ukraine Krise darf sich dann fugenlos das Endzeitszenario des Klimatodes anschließen, mit denen Menschen, die durch Corona und Ukraine aktiviert wurden, weiter motiviert bleiben, alles zu akzeptieren, was ihnen der Konsens der staatstragenden Parteien aufzwingt. Nein, es wird so schnell keine Ruhe mehr geben, nachdem die Werkzeuge von Krise und Propaganda sich so sehr bewährt haben.
- https://www.washingtonpost.com/opinions/2023/01/24/blinken-ponders-post-ukraine-war-order/
- https://twitter.com/KitKlarenberg/status/1618889187016724482
- https://www.indianpunchline.com/europe-has-enemies-within-enemies-without/
- https://www.indianpunchline.com/ukraine-wars-first-anniversary-and-beyond/
Der Autor twittert zu aktuellen Themen unter https://twitter.com/jochen_mitschka
Anmerkung:
Entgegen Behauptungen in Kommentaren wurde ich noch kein einziges Mal in irgendeiner Weise beeinflusst, wie meine Artikel/PodCasts inhaltlich zu schreiben seien. Ganz im Gegenteil zu drei anderen, auch kritischen, Internet-Seiten, die auch schon Berichte verweigerten, weil „zu kontrovers“. Diese absolute Freiheit ist es, die mich bewog, mich auf den donnerstäglichen PodCast zu konzentrieren.
Einzige Restriktion ist das Format, d.h. die Länge der Artikel, die noch einsprechbar sein muss. Deshalb finden sich Ergänzungen zum PodCast oft in diesem Textteil.
Zu Kommentaren:
Russlands Isolation
Russland hat ein „Golden-Visa-Programm“ eingeführt, dass besonders für indische Unternehmer, die nicht in den USA aktiv sind, interessant zu sein scheint. Der Meinung von mehreren Analysten nach, könnte das Programm, auf das die Economic Times ( https://economictimes.indiatimes.com/nri/migrate/russian-golden-visa-russian-gov-lures-indian-investors-with-new-residency-program/articleshow/97419768.cms ) aufmerksam gemacht hat, indischen Firmen sehr zugute kommen. Bei den Vorteilen, die sich für Inder eröffnen, wird auch nicht vergessen, auf ihre „patriotische Pflicht, eine einzigartige Rolle bei der Stärkung der russisch-indischen strategischen Partnerschaft“ zu spielen, hinzuweisen. Sie könnten damit einen wichtigen Beitrag zur Multipolarität leisten.
Diesen Tenor kann man nicht nur aus einem der wichtigsten Medien Indiens, der Economic Times lesen. Die Schwelle sei vergleichsweise niedrig genug (zwischen 215.000 $ für Investitionen in soziale Projekte und bis zu 715.000 $ für Investitionen in Immobilien in Moskau), um indischen Investoren der Mittel- und Oberschicht die Möglichkeit zu geben, eine Aufenthaltsgenehmigung für sich und ihre Familie zu erhalten, ohne tatsächlich in Russland zu leben. Funktional gesehen handele es sich dabei um eine Lösung zur Beseitigung vieler bürokratischer Hürden, die ausländische Investitionen im Land noch immer behindern, wobei die Erträge aus passiven Investitionen problemlos nach Indien verbracht werden könnten.
Der erklärte Zweck dieses Programms sei natürlich die Förderung der Einwanderung nach Russland, aber es sei wichtig, dass indische Investoren wissen, dass sie dieses neue Programm auch für den oben genannten Zweck nutzen können. In jedem Fall sei das Ergebnis für die russisch-indischen Beziehungen von beiderseitigem Nutzen, da diese seit Jahrzehnten „besonderen und privilegierten strategischen Partner“ es ernst meinen mit der Ausweitung ihres Handels und ihrer Investitionen.
Interessant ist auch, dass Indien eine große Rolle bei zwei Mega-Projekten spielt. Dabei handelt es sich um den Nord-Süd-Verkehrskorridor (NSTC) und den Seekorridor Wladiwostok-Chennai (VCMC) mit ihren jeweiligen Drehkreuzen im kaspischen Hafen von Astrachan und im pazifischen Hafen von Wladiwostok.
Daher wäre es für indische Investoren von größtem gegenseitigem Nutzen, ernsthaft Möglichkeiten in einer dieser beiden Städte und/oder den dazugehörigen Logistiknetzen in Betracht zu ziehen, um die Bemühungen dieser Länder um die Schaffung dieser beiden neuen eurasischen Integrationskorridore zu unterstützen, heißt es in dem Artikel. Es wird erwartet, dass der bilaterale Handel zwischen den beiden Ländern ohnehin schon zunehmen wird, so dass diejenigen, die rechtzeitig einsteigen, von diesem Glücksfall maximal profitieren können.
Andrew Korybko meint, dass, aufbauend auf diesen strategischen Investitionsvorschlägen das Wachstum der indischen Diaspora in beiden Städten durch mehr Einwanderung dorthin, gefördert werden könnten. Das wären dann wichtige Ankergemeinschaften für eine weitere Ausweitung des bilateralen Handels und der Investitionen durch die damit verbundenen Megaprojekte. Infolgedessen würde Indien entlang dieser transkontinentalen Korridore Wettbewerbsvorteile erlangen, die dem Land schließlich den eurasischen Einfluss verleihen könnten, der seinem neuen globalen Status entspricht.
Damit, so sollte man hinzufügen, erreicht Russland außerdem eine wichtige Position in der Vermittlung zwischen Indien und China. Nachdem die Beziehung Russlands zu China bereits auf ein historisches Niveau angehoben wurde, scheint die Diplomatie des Kremls nun das gleiche mit den Beziehungen zu Indien anzustreben. Und verschafft sich damit eine neue Rolle zwischen den beiden Riesen des neuen Multipolarismus. Einen Einfluss, welche die USA bisher versuchten durch „teile und herrsche“, durch zündeln und intrigieren, zu erreichen.
Waffen für den Sieg der Ukraine
Es gibt eine Zeitenwende, allerdings nicht wie Scholz vermutete. Zuerst der Artikel in der Washington Post, die einen Blinken-Vorschlag veröffentlicht, den Russland „nicht ablehnen kann“, wie man überheblicherweise glaubt. Er sieht vor, die wichtigsten von Russland einverleibten Gebiete der Ukraine Russland zu überlassen, westliche Waffen hinter eine Pufferzone zurück zu ziehen, und der Ukraine die geforderte Neutralität zu geben. Nun gibt es auch noch eine Analyse der äußerst wichtigen US-Denkfabrik Rand Corporation, in der im Prinzip alles gefordert wird, was „Putinknechte“ seit Monaten fordern, weil ein verlängerter Krieg nicht im Interesse der USA sei. ( https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA2510-1.html ) So schnell kann es gehen.
Nun hat allerdings Russland 200.000 Mann für eine Offensive in Reservestellung, das Land auf Kriegsproduktion umgestellt und eine Bevölkerung, die nach Rache für empfundenen Verrat verlangt. Die Frage ist, ob nach den bisherigen Erfahrungen mit Zusagen und Verträgen mit dem Westen, Russland sich noch einmal auf irgendwelche „Sicherheitszusagen“ einlassen wird, und nicht nur Fakten als Sicherheit akzeptieren mag, scheint legitim. Andererseits hat Russland m.E. die besten Diplomaten, und Krieg ist nicht wie für die USA, Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, sondern nur letzte Lösung, wenn alle anderen Versuche scheitern. Das konnte man deutlich an dem vollkommen anderdstzihrn, für Zivilisten viel schonenderen Krieg, im Vergleich zu NATO oder US-Kriegen, erkennen.
Jedenfalls gibt es einen Hoffnungsschimmer, dass das Leiden der Bevölkerung, insbesondere in den östlichen Landesteilen der Ukraine, ein Ende finden könnte. Nur leider kommt der nicht aus einem „werte- oder humanitär“ argumentierenden Deutschland, sondern überraschenderweise, aus pragmatischen und eigennützigen Gründen, aus den USA. So kann Realismus und Eigennutz durchaus im Interesse von Humanität sein.
US-Ukraine-Falken
Der immer optimistische Pepe Escobar meint, dass die US-Falken in Panik verfallen, da ein Sieg Russlands in der Ukraine drohe. Er schreibt im The Cradle ( https://thecradle.co/article-view/20878/a-panicked-empire-tries-to-make-russia-an-offer-it-cant-refuse ), dass eigentlich die wichtigsten "Empfehlungen" - militärisch, wirtschaftlich, politisch, diplomatisch – erst am Ende letzten Jahres in einem Strategiepapier des Atlantic Council ausführlich dargelegt wurden.
In einem anderen Papier ( https://www.atlanticcouncil.org/content-series/atlantic-council-strategy-paper-series/preparing-for-victory-a-long-haul-strategy-to-help-ukraine-win-the-war-against-russia-and-secure-the-peace/ ) unter "Kriegsszenario 1: Der Krieg geht in seinem derzeitigen Tempo weiter", finde man die Strauss'sche Neokonservativen-Politik vollständig erklärt.
Dort stehe alles: von der "Bereitstellung von Unterstützung und militärischer Hilfe für Kiew, die ausreicht, um das Land in die Lage zu versetzen, den Krieg zu gewinnen" bis hin zur "Erhöhung der Tödlichkeit der militärischen Hilfe, die auch Kampfflugzeuge umfasst, die es der Ukraine ermöglichen würden, ihren Luftraum zu kontrollieren und russische Streitkräfte darin anzugreifen, sowie Raketentechnologie mit einer Reichweite, die ausreicht, um russisches Gebiet zu erreichen".
Von der Ausbildung des ukrainischen Militärs "im Umgang mit westlichen Waffen, elektronischer Kriegsführung sowie offensiven und defensiven Cyberfähigkeiten und der nahtlosen Integration neuer Rekruten in den Dienst" bis hin zur Verstärkung der "Verteidigung an der Frontlinie in der Nähe der Donbass-Region", einschließlich "Kampftraining mit Schwerpunkt auf irregulärer Kriegsführung." Anmerken sollte man, dass dies die zahlreichen Attentate auf Politiker und Beamte in den von Russland beanspruchten Bereichen beinhalten dürfte.
Neben der "Verhängung von Sekundärsanktionen gegen alle Einrichtungen, die mit dem Kreml Geschäfte machen", käme man natürlich zur Mutter aller Plünderungen: "Beschlagnahme der 300 Milliarden Dollar, die der russische Staat auf Überseekonten in den Vereinigten Staaten und der EU hält, und Verwendung der beschlagnahmten Gelder zur Finanzierung des Wiederaufbaus."
Die Umstrukturierung der Militäroperation mit Putin, Generalstabschef Waleri Gerassimow und General Armageddon in ihren neuen, erweiterten Rollen bringe all diese ausgeklügelten Pläne zum Scheitern.
Die Straussianer, so glaubt Escobar, seien jetzt in tiefer Panik. Selbst Blinkens Nummer zwei, die russophobe Kriegstreiberin Victoria "F**k the EU" Nuland, habe vor dem US-Senat zugegeben, dass es vor dem Frühjahr (realistischerweise erst 2024) keine Abrams-Panzer auf dem Schlachtfeld geben werde. Außerdem versprach sie eine "Lockerung der Sanktionen", wenn Moskau "zu Verhandlungen zurückkehrt". Dabei seien diese Verhandlungen von den Amerikanern selbst in Istanbul im Frühjahr 2022 abgebrochen worden. Nuland habe die Russen auch aufgefordert, "Truppen abzuziehen". Dann schließt er:
„Nun, das ist zumindest ein wenig komisch im Vergleich zu der Panik, die von Blinkens ‚Angebot, das man nicht ablehnen kann‘ ausgeht. Bleiben Sie dran für Russlands Nicht-Reaktion.“
Brasilien / Lula
In früheren Kommentaren wurde erwähnt, dass Lula das nächste Gipfeltreffen verschoben hätte. Das ist falsch. Verschoben wurde lediglich, dass Brasilien als Gastgeber und Vorsitz fungiert. Im Gegenteil deutet sich an, dass das Gegenteil des Befürchteten eintritt. Lula hat nämlich Russland gebeten, 2024 den Vorsitz von BRICS zu übernehmen, und mit Brasilien zu tauschen, das dann 2025 den Vorsitz hat und das Treffen organisiert. ( https://news.russia.postsen.com/local/177786.html ) Das ermöglicht Russland sein Profil zu stärken, während der Westen versucht es zu isolieren.
In früheren PodCasts wurde über die Demonstrationen gegen den neuen Präsidenten Lula in Brasilien diskutiert, die in einem Sturm auf die Regierungsgebäude eskalierte. Inzwischen wurden einige Details bekannt, die jedoch in Deutschland kaum beachtet werden. Besonders interessant ist ein Artikel von Pedro Marin über die Rolle des Militärs in den Putschversuch. (https://www.struggle-la-lucha.org/2023/01/20/the-role-of-the-brazilian-military-in-the-coup-attempt/) Er kann etwas Licht in die verschiedenen Vermutungen und Spekulationen geben, welche nach dem Ereignis in den sozialen Medien die Runde machten.
Er schreibt, dass der rechtsextreme Mob, der am 8. Januar das Bundesgebäude, den Kongress und den Obersten Gerichtshof stürmte und Regierungsgebäude auf dem Platz der drei Mächte in Brasília verwüstete, eine "Militärintervention" in Brasilien gefordert hatte. Die Menge hätte Lager errichtet, die sich seit November vor Kasernen im ganzen Land versammelt hatten, und forderten, dass das Militär die Wahl des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva (bekannt als Lula) stürzen solle.
Am 11. November 2022 hätten dann die Befehlshaber der Streitkräfte eine Mitteilung veröffentlicht, die den Putschisten einen sicheren Hafen geboten habe - nicht nur physisch, sondern auch rechtlich. Es sei wichtig, erklärt der Autor, zwei Elemente dieses Dokuments zu beachten: Erstens erklärten die Befehlshaber durch eine unlogische Interpretation, dass die Lager für einen Staatsstreich legal seien, weil die Demonstranten friedlich seien, und dass "sowohl mögliche Einschränkungen der Rechte durch Beamte als auch mögliche Exzesse bei Demonstrationen" verwerflich seien, obwohl die Aufforderung an das Militär, einen Staatsstreich zu inszenieren, ein Verbrechen ist (Artikel 286). In der Praxis traten also die Kommandeure der drei Streitkräfte als Verfassungsinterpreten auf, indem sie die demokratische Legitimität der Putschisten verteidigten und im Voraus erklärten, dass jede Maßnahme der Institutionen gegen die Putschisten von ihnen als rechtswidrig betrachtet würde.
Das zweite Element der Note habe sich auf das Konzept der "moderierenden Macht" bezogen. Die Kommandeure hätten ihr Engagement für das brasilianische Volk bekräftigt und erklärt, die Streitkräfte seien "in den wichtigsten Momenten unserer Geschichte immer präsent und moderierend". Die moderierende Gewalt wurde mit der Verfassung von 1824 eingeführt, basierend auf den Ideen von Benjamin Constant, der voraussagte, dass es zur Vermeidung von "Anarchie", die das Konzept der drei Regierungszweige kennzeichnete, notwendig sein würde, einer der Gewalten (in Brasilien dem Monarchen) eine vierte Gewalt zu geben, die in der Lage ist, institutionelle Unstimmigkeiten zu lösen.
Als Lulas Verteidigungsminister José Múcio am 2. Januar sagte, dass er die Lager als "Ausdruck der Demokratie" betrachte und dass er "Freunde und Verwandte" habe, die in diesen Lagern seien, habe er nur wiederholt, was die Militärs seit November gesagt hatten.
Brasilien müsse auf eine lange Geschichte militärischer Interventionen in der Politik zurückblicken. Die brasilianische Republik wurde 1889 durch einen Militärputsch gegründet. Von da an bis 1989 erlebte Brasilien mindestens 15 Staatsstreichversuche, von denen fünf erfolgreich waren: darunter eine 21 Jahre dauernde Militärdiktatur, berichtet der Artikel. Nach dem Sturz der Diktatur im Jahr 1985 hätten die Brasilianer dann erwartet, dass die zivile Kontrolle über das Militär wiederhergestellt würde und dass sich die Achtung vor der Demokratie durchsetzen würde. Der Demokratisierungsprozess selbst sei jedoch von der scheidenden Militärregierung kontrolliert worden, und zwar durch eine "langsame, schrittweise und sichere politische Öffnung", wie es der damalige Militärpräsident Ernesto Geisel formulierte, und der Druck der Armee auf die verfassunggebende Versammlung, die die Verfassung von 1988 schrieb, habe ihr die Rolle der "Garanten der Macht und der Verteidiger von Recht und Ordnung" gesichert.
Während der ersten beiden Amtszeiten Lulas (von 2003 bis 2011) habe das Militär eine Lobbystrategie gegenüber der Regierung verfolgt. Seit dem Amtsenthebungsverfahren gegen die ehemalige brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 scheinen sie jedoch wieder in den Vordergrund der Politik zu rücken, meint der Autor. Aus den Reihen der Reserve und des aktiven Militärs seien Äußerungen aufgetaucht, die zu Putschen aufriefen, ohne dass diese bestraft wurden, und selbst der damalige Oberbefehlshaber der Streitkräfte, General Eduardo Villâs Boas, habe in einem Tweet erklärt, dass er "Straflosigkeit ablehnt", als der Oberste Gerichtshof sich darauf vorbereitete, über eine Habeas-Corpus-Petition zu entscheiden, die Lula 2018 eingereicht hatte.
Villâs Boas habe seinen Tweet später als "Warnung" bezeichnet. Und die Armee habe dann wichtige Positionen in der Regierung des ehemaligen Präsidenten Michel Temer eingenommen und ihre politische Beteiligung unter der Regierung des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro ausgeweitet und den Wahlprozess im Jahr 2022 ständig bedroht.
Am 8. Januar, als die Regierungsgebäude in Brasília vom wütenden Mob verwüstet wurden, sei ein Dekret zur Gewährleistung von Recht und Ordnung (GLO) diskutiert worden und 2.500 Militärs mobilisiert, um auf die eskalierende Situation zu reagieren. Wäre ein solches Dekret unterzeichnet worden, wären die Streitkräfte für die Kontrolle der Sicherheit in der brasilianischen Bundeshauptstadt zuständig gewesen, erklärt der Artikel. Lula habe aber anders reagiert und eine föderale Intervention "im Bereich der Sicherheit im Bundesdistrikt" angeordnet und Ricardo Capelli beauftragt, den Exekutivsekretär des Justizministeriums, die Leitung der Intervention zu übernehmen. Der Präsident habe später erklärt, dass, wenn er ein GLO durchgeführt hätte, "der Putsch, den diese Leute wollten, stattgefunden hätte".
Die Beteiligung des Militärs an den Anschlägen vom 8. Januar werde derzeit untersucht. Viele Reservisten der Streitkräfte seien an den Anschlägen beteiligt gewesen. Auch die Gründe, warum das Bataillon der Präsidentengarde, das für die Sicherheit des Planalto-Palastes zuständig ist, die Demonstranten nicht daran hinderte, in den Regierungssitz einzudringen, werden derzeit untersucht. "Es gab eine Menge hinterhältiger Leute. Es gab viele Leute von der [Polizei], die hinterhältig waren. Viele Leute von den Streitkräften waren hier hinterhältig. Ich bin überzeugt, dass die Tür des Planalto-Palastes für diese Leute geöffnet wurde, denn es gibt keine aufgebrochenen Türen. Das bedeutet, dass ihnen jemand den Zugang erleichtert hat", sagte Lula.
Nach der Einrichtung der föderalen Intervention seien die Sicherheitskräfte unter der Führung von Ricardo Capelli gegen die Putschisten vorgegangen und hätten sie festgenommen. Die Armee habe gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt, um die Polizei zu blockieren und daran zu hindern, das Lager zu betreten und die Verantwortlichen am 8. Januar zu verhaften. Der Washington Post zufolge habe der ranghöchste Befehlshaber der Armee, General Júlio César de Arruda, dem Justizminister Flávio Dino erklärt: "Sie werden hier keine Leute verhaften." Die Polizei hätte das Lager erst am nächsten Tag betreten dürfen.
Dieser Vorfall sei nur ein Ausdruck dessen, was die Streitkräfte seit November 2022 sagen: dass sie sich als mäßigende Macht betrachten und dass sie - auch nach der Zerstörung am 8. Januar - nicht zulassen werden, dass "öffentliche Agenten" irgendeine Handlung durchführen, die sie als "Einschränkung der Rechte" der Putschisten betrachten.
Die Armee habe den Putschisten vor und nach der Zerstörung der Gebäude in Brasília und während sie ein Eingreifen der Armee gegen den Präsidenten forderten, einen sicheren Hafen gewährt. Gleichzeitig sei sie nicht in der Lage gewesen, den Präsidentenpalast vor einer solchen Menschenmenge zu schützen. Dies sei ein klares Zeichen dafür, wen die Armee zu verteidigen versuchte und was sie als ihre eigentliche Aufgabe ansieht. In Brasilien werde es immer dringender, dass die Massen, die bei Lulas Amtseinführung am 1. Januar 2023 im Chor "Keine Amnestie!" für Bolsonaro riefen, auch das Militär in ihre Forderung einbeziehen.
Soweit der Artikel. Damit wird klar, wie gefährlich die Situation nach wie vor in Brasilien ist. Sie erinnert mich ein bisschen an meine Erfahrung in Thailand. Als ich 2006 von Bangkok nach Kuala Lumpur flog, las ich in der Bangkok Post, dass der Armeechef erklärte, dass die Armee wie ein Rennpferd sei, und der Premierminister der Jockey, aber der König der Eigentümer des Pferdes. Ich konnte das nicht fassen, weil ich der Meinung war, dass das Zeitalter der Militärputsche vorbei war, aber wenige Tage später fand der 18. Militärputsch statt, der die kurze Phase der Demokratie seit der Verfassung von 1997 und den ersten demokratischen Wahlen von 2001 wieder vernichtete.
Deutsches Betteln um Unterstützung
Sehr interessant ist auch die Tatsache, dass Deutschlands Bundeskanzler Scholz nicht nur in Afrika, nun sogar im erweiterten „Hinterhof der USA“, in Brasilien und Argentinien bei dem Versuch abblitzt, Munition bzw. Waffen oder andere Unterstützung im deutschen Krieg gegen Russland zu erhalten. Auch beim Versuch, Lithium für die Batterieproduktion zu sichern, schmunzelt der Globale Süden nun, da Deutschland plötzlich das anbietet, womit sich China in Afrika beliebt gemacht hat: Mit Hilfe beim Ausbau der Wertschöpfung im Ursprungsland des Rohstoffes. Alles mit dem Ziel, Chinas große Überlegenheit in der Lithium-Weiterverarbeitung zu bekämpfen.
Für den Globalen Süden wäre es sicher nicht schlecht, wenn nun ein Wettbewerb darum stattfinden würde, wer die industrielle Entwicklung der Regionen nun stärker unterstützt. Ob Deutschland das aber wird stemmen können, wenn gleichzeitig die militärischen Ambitionen weiter steigen, während Industrie wegen der Politik der Ampel abwandert, darf bezweifelt werden.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
+++ Bildquelle: shutterstock / Everyonephoto Studio
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