Standpunkte

Verborgener Hass | Von Bastian Barucker

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Viele Menschen tragen eine seit der Kindheit unterdrückte Aggressivität mit sich herum. In einer Kriegssituation kommt diese dann zum Ausdruck.

Ein Standpunkt von Bastian Barucker.

Brüllen, toben, wild um sich schlagen, vielleicht sogar Menschen körperlich angreifen, von denen wir uns schlecht behandelt fühlen — wann gestehen wir uns solche Verhaltensweisen im Alltag jemals zu? Wir leben ja in einer gesitteten, befriedeten Gesellschaft; der offene Ausdruck negativer Gefühle ist meist unerwünscht. Wer die Etikette verletzt, muss soziale Isolation befürchten. Aggressive Gefühle sind jedoch nicht weg, wenn wir sie unterdrücken. Sie rumoren im Verborgenen in uns weiter und warten auf eine Gelegenheit, sich ungehemmt entladen zu können. Wenn nun Regierung und Medien ein Feindbild anbieten, das verspricht, die eigenen Schattenseiten ungehemmt an diesen vermeintlich minderwertigen Menschen ausagieren zu können, kann es sein, dass mit einem Mal alle Masken fallen und die Hölle losbricht. Diese Dynamik bietet jedoch auch Chancen. Wenn wir die Ursachen aggressiver Gefühle, die oft schon in der Kindheit liegen, besser zu verstehen lernen, kann diese mit dazu beitragen, Kriege zu verhindern.

Seit zwölf Jahren begleite ich Menschen im Rahmen der „Gefühls- und Körperarbeit nach Willi Maurer“. Die Klientinnen und Klienten entdecken und erkunden dabei ihre Gefühlswelt und bringen verdrängte Episoden, meist aus ihrer frühen Kindheit, ans Licht. Ausgehend von alltäglichen Situationen und den dazugehörigen Gefühlen gehen sie auf Spurensuche nach den Wurzeln von Leid erzeugenden Verhaltensweisen. So erhielt ich Einblick in Hunderte Lebensgeschichten, und dabei wiederholt sich oft die Bewusstwerdung von tief vergrabenem Hass: der Hass des Babys oder Kleinkindes, welches vernachlässigt, nicht geliebt, nicht beachtet oder sogar emotional oder körperlich missbraucht wird.

Dieser Hass — der sich gegen ein Schmerz verursachendes Verhalten und nicht die Person als Ganzes richtet — und die damit verbundene Aggression können als Kind nicht ausgelebt werden, da die überlebenswichtige Zugehörigkeit zu Eltern oder nahe stehenden Personen nicht durch eine Konfrontation aufs Spiel gesetzt werden darf. Daher werden sowohl das Gefühl des Hasses als auch die Erinnerung an die damit zusammenhängende Situation abgespalten; sie verweilen jedoch im Körper und im Unterbewusstsein.

„Der griechische Ursprung von Schizophrenie bedeutet gespaltener Geist. Die Frage ist naheliegend: Warum sollte ein Geist sich spalten müssen? Spaltung gehört zu den psychischen Abwehrmechanismen. Sie wird hervorgerufen, wenn man die Realität nicht ertragen kann. Nur wer das reale Leben als unerträgliches Übel empfindet, sieht sich gezwungen, es zu verlassen“ — Dr. Gabor Mate in „Vom Mythos des Normalen“.

In der begleiteten Arbeit frage ich die Menschen bei aufkommender Wut manchmal: Was wäre dein Impuls, wenn alles erlaubt wäre und auf niemanden Rücksicht genommen werden müsste? In sehr vielen Fällen zeigt sich dann ein unbändiger Hass, der mittels Schlagen und Schreien ausagiert wird. Endlich darf dieser Impuls, der seit Jahrzehnten in jeder Zelle des Körpers wohnt, ausgelebt werden, ohne dass dabei jemand zu Schaden kommt!

Meine Erfahrung lässt mich vermuten, dass sehr viele Menschen unentdeckten Hass in sich tragen, welcher ihr Leben stark beeinflusst und welcher in bestimmten Situationen willkürlich aber auch unwillkürlich geweckt werden kann.

„Das von Geburt an zum Gehorsam und zur Unterwerfung gezwungene Kind fügt sich schließlich den Willen Anderer und gibt seine Individualität und auch eigene Gefühlswelt auf. Ein solch geprägter Mensch ist ein perfekter Befehlsempfänger, Untertan, Gläubiger oder weitergedacht Soldat“ — Sven Fuchs in „Die Kindheit ist politisch!“.

Der verborgene individuelle Hass und gesellschaftlich ausgetragene Kriege

An aktuellen und vergangenen Kriegsgeschehen wird sichtbar, wie dieser abgespaltene persönliche Hass gesellschaftlich Wirkung entfalten kann: Wenn ein Feindbild auftaucht, welches durch politische Propaganda entmenschlicht wird, entsteht gesellschaftlich eine ähnliche Situation wie die oben beschriebene Therapiesituation.

Ein Feind, der als Monster, als Schlächter, als Tier oder Untermensch beschrieben wird, kann auf der einen Seite Erinnerungen an Ohnmacht und Leid aus frühester Kindheit in Resonanz versetzen. Ein Baby, dessen grundlegende Bedürfnisse nicht erfüllt werden und das deswegen Schmerz empfindet, kann die eigenen Eltern als Monster wahrnehmen, wenn es sich etwa alleingelassen oder abgewiesen fühlt.

Auf der anderen Seite schafft die Entmenschlichung des Feindes eine Situation, in der plötzlich alles erlaubt zu sein scheint. Es entsteht eine Art Dammbruch: „Endlich” darf das mit unentdecktem Hass belastete Individuum diesen so lange mit viel Energieaufwand gedeckelten Hass ausleben und den gesellschaftlich ausgerufenen Feind mit voller Härte und allen Mitteln zurückschlagen beziehungsweise angreifen.

Konsequenzen müssen dabei nicht befürchtet werden, und so ist eine kollektive Entladung des Hasses möglich. Es entsteht eine Art Katharsis, bei der eine ganze Gesellschaft Dampf ablassen kann. Hass und Gewalt sind wieder erlaubt, weil der Feind so abscheulich ist.

Außerhalb solcher praktischer Entladungsmöglichkeiten ist die Projektion des eigenen inneren Hasses auf andere — etwa auf Geflüchtete, Rechtsextreme, Staatschefs totalitärer Staaten, Eliten, auf die eigene Regierung oder auch auf Ungeimpfte — leichter zu verkraften als eine Begegnung mit der eigenen individuellen Geschichte. Bei letzterer könnte es sein, dass zum Beispiel hinter dem Hass auf Vater Staat der Hass auf den eigenen unterdrückenden oder übergriffigen Vater zu Tage tritt. Der Hass auf Geflüchtete könnte sich als existenziell bedrohliche Verlustangst und frühkindliche Ohnmacht entpuppen und so weiter.

Manchmal wollen Menschen noch an einem Feindbild festhalten, obwohl sich zeigt, dass das medial beschriebene Narrativ nicht der Wahrheit entspricht und der Gegner doch nicht so abscheuliche Taten vollbracht hat wie zuvor behauptet, siehe Jugoslawienkrieg, Brutkastenlüge, Massenvernichtungswaffen im Irak. Eine Art innere Abwehr setzt sich in Gang, da das alte, ungetrübte Feindbild zumindest das verbale oder vorgestellte Ausagieren des inneren Hasses ermöglicht — wir leugnen gerne die Wirklichkeit, solange dies die Erleichterung des Gefühlsstaus verspricht.

Unentdeckter, uneingestandener innerer Hass ist individuell und kollektiv betrachtet eine machtvolle Kraft. Das bedeutet jedoch nicht, dass etwa jeder Ruf nach Gegenwehr auf kriegerische Angriffe prinzipiell auf frühen Prägungen basieren würde.

Ich will nicht sagen, dass es keine realen Feindbilder und unmenschlichen Kriegsverbrechen gäbe, die geahndet und aufgeklärt werden müssen. Es geht darum herauszuarbeiten, wann der abgespaltene Hass einer ganzen Gesellschaft zur Feindbild-Erzeugung benutzt wird und inwiefern er unverhältnismäßige Handlungen begünstigt, die wiederum zu noch mehr Leid und Krieg führen. Kriege führen immer zu schwer traumatisierten Generationen und unendlichem, schwer zu verarbeitendem Leid. Diese Dynamik hält Gesellschaften in Gewaltspiralen fest, aus denen sie sich nur sehr schwer befreien können.

„Die Spirale der Gewalt zeigt, dass wir andern Menschen das antun, was uns selbst widerfahren ist. Doch ohne Selbsterforschung bleiben wir blind gegenüber der tief in uns verdrängt liegenden Wahrheit“ — Willi Maurer in Die verschüttete Quelle des Friedens.

Innenschau ist echte Friedensarbeit!

Daher — und obwohl es vielleicht mit Blick auf die mächtigen geopolitischen Dynamiken fast irrelevant erscheinen mag — ist es durchaus echte Friedensarbeit, den eigenen inneren Hass in einem geschützten Rahmen zu entdecken, ihn anzuerkennen und mithilfe von professioneller Begleitung psychisch zu integrieren. Das ermöglicht einen friedvolleren Umgang mit Konfliktsituationen jeglicher Art — und auf lange Sicht einen Ausweg aus generationsübergreifenden Traumaerfahrungen.

Nach einer soliden Integration der Hass auslösenden Erfahrungen aus der eigenen schmerzhaften Geschichte ist es möglich, die Verhaftung an diese Geschichte zu lösen und mit weniger aufgestautem Groll durchs Leben zu gehen.

Aus der Integration folgt ein realitätsbezogener Umgang mit Konfliktsituationen und weniger Empfänglichkeit für Gräuelpropaganda. Eine Gesellschaft, die sich dem Frieden annähern, ihn kultivieren und nachhaltig leben möchte, braucht demnach Räume, in denen Menschen ihre eigene Friedfertigkeit entwickeln können, indem sie die eigene Geschichte integrieren.

Außerdem müsste sich eine solche Gesellschaft ernsthaft und systematisch darum bemühen, Kleinkinder von Zeugung an als bewusste Wesen wahrzunehmen, auf deren existenzielle Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit, Nähe, Liebe und Anerkennung ein Hauptaugenmerk gerichtet wird.

Das wäre eine sehr wirkungsvolle Hass- und damit Kriegsprävention.  

Anmerkungen

 

Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Dieser Beitrag erschien zuerst am 21. Oktober 2023 bei manova.news und im Blog von Bastian Barucker

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Bildquelle: ranaraya/ shutterstock


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