Standpunkte

Völkermord, Flächenbrand, Nakba 2.0 | Von Jochen Mitschka

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Ein Standpunkt von Jochen Mitschka.

Anfang September änderte sich die Situation der israelischen Geiseln, die noch durch die Hamas festgehalten werden. Nachdem Israel offensichtlich die Geiseln zugunsten einer Fortsetzung des Völkermordes und Verhinderung eines Waffenstillstandes opfern wollte, schien auch die Hamas ihre Einsatzregeln verändert zu haben, und hatte den Kämpfern die Anweisung gegeben, die Geiseln bei Zusammentreffen mit der IDF zu töten. Und zum ersten Mal in der Geschichte forderte Israel die Siedler in Galiläa auf, Versammlungen zu vermeiden, aus Angst vor Bombenangriffen der Hisbollah. Israel schien tatsächlich abgeschreckt und sich gegen einen vollständigen Angriff des Libanons zu entscheiden. Jedenfalls für den Moment. Derweil wurde immer deutlicher sichtbar, dass die zionistische Besatzungsmacht nun die in Gaza geübten Vorgehensweisen in den Rest Palästinas brachten. D.h. Zerstörung der Infrastruktur, Folterung von willkürlich festgehaltenen Palästinensern, Zerstörung von Geschäften und Wohngebäuden, Ermordungen und Vertreibungen.

Aber schauen uns wir zunächst an, was Maureen Clare Murphay am 6. September über das „Endspiel“ Israels schreibt (1), um zu verstehen, wie die Situation im beginnenden Herbst in Palästina war. Die Autorin beginnt damit zu erklären, dass die Biden-Regierung kurz davor stehe, die Waffenstillstandsvereinbarungen für gescheitert zu erklären. Wir erinnern uns, dass der IGH von Israel eine sofortige Einstellung der Kampfhandlungen gefordert hatte, aber Netanjahu offensichtlich alles getan hatte, um das zu verhindern. Michael Lüders erklärte das ausführlich in einem Videokommentar. (2)

Murphay stellt die Frage, was denn danach kommen könnte. Und sie berichtet über den Zustand der israelischen Gesellschaft, mit Demonstranten und Streikenden, welche das Land zum Stillstand brachten.

„Die israelischen Behörden sagten, dass die Gefangenen, darunter ein US-Bürger, nur wenige Tage vor dem Auffinden ihrer Leichen aus nächster Nähe erschossen worden waren. Tage zuvor wurde ein palästinensischer Staatsbürger Israels, der am 7. Oktober in einem Kibbuz gefangen genommen worden war, lebend in einem Tunnel unweit des Ortes gefunden, an dem die sechs getöteten Gefangenen später geborgen wurden. Die Leiche eines weiteren toten Gefangenen war kürzlich in einem anderen Gebiet geborgen worden. Die Kassam-Brigaden, der bewaffnete Flügel der Hamas, schienen zu bestätigen, dass die am Samstag gefundenen sechs von ihren Kämpfern hingerichtet worden waren – oder zumindest gaben sie sich damit zufrieden, diesen Eindruck zu erwecken. Abu Obeida, ein Pseudonym des Sprechers der Kassam-Brigaden, erklärte am Montag, dass die Kämpfer, die Gefangene bewachen, neue Anweisungen erhalten hätten, wie sie sich verhalten sollten, wenn sich das israelische Militär nähere. Abu Obeida fügte hinzu, dass die neuen Anweisungen nach dem Nuseirat-Vorfall weitergegeben wurden, und bezog sich dabei auf das Flüchtlingslager im Zentrum des Gazastreifens, wo bei einem Überfall, bei dem das israelische Militär vier Gefangene befreite, fast 300 Palästinenser getötet wurden. Das Beharren des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu auf militärischem Druck statt auf einem Abkommen mit der Hamas würde bedeuten, dass die verbleibenden Gefangenen in Gaza in Särgen zurückkehren würden, sagte Abu Obeida.“ (1)

Die Kassam-Brigaden, so der Artikel weiter, begannen auch damit, Videos zu veröffentlichen, auf denen angeblich die letzten Botschaften der am Samstag getöteten Gefangenen zu sehen seien. Das erste zeigte die 24-jährige Eden Yerushalmi, die Netanjahu und die israelische Regierung anflehte, „das Notwendige zu tun, um uns jetzt freizulassen.“

Yerushalmis Video-Statement, bearbeitet von den Kassam-Brigaden, war natürlich unter Zwang abgegeben worden, da sie gegen ihren Willen festgehalten wurde. Spätere Videos der anderen getöteten Gefangenen wiederholen im Prinzip die gleichen Botschaften, die an Netanjahu gerichtet waren. In dem undatierten Video, so der Bericht weiter, habe sie gesagt, dass Netanjahu zugestimmt habe, 1.000 palästinensische Gefangene im Austausch für Gilad Shalit freizulassen, den israelischen Soldaten, der 2006 von Kämpfern gefangen genommen und von der Hamas mehr als fünf Jahre lang in Gaza festgehalten wurde. Für die Freilassung der aktuellen Geiseln würde nur ein Viertel der Zahl gefordert. Und weiter führte sie, natürlich unter Druck, aus, dass ihr Schicksal auf das Versagen des Staates Israels und der Sicherheitskräfte am 7. Oktober zurückzuführen sei.

Die Autorin erklärt dann, wie Michael Lüders und eigentlich alle neutralen Analysten der Vorgänge, dass alleine Netanjahu dafür Verantwortlich ist, dass es keine Vereinbarung zur Freilassung der Geiseln gab. In einer Pressekonferenz hatte er sich auch geweigert, den Forderungen Israels nachzukommen, und den Philadelphi-Korrodor an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten zu räumen. Dagegen habe sich sogar der nicht weniger völkermörderische Verteidigungsminister Gallant gewandt, mit den zitierten Worten:

„Die Tatsache, dass wir dem Philadelphi-Korridor auf Kosten der Leben der Geiseln Vorrang einräumen, ist eine moralische Schande“.

Während Netanjahu ganz offensichtlich eine harte Haltung durchsetzt, um sein politisches Überleben zu verlängern, und Gefängnisstrafen wegen Korruption zu vermeiden, gewinnt er natürlich so die Zuneigung der rechtsextremsten Minister wie Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich.

„Das ‚Hostages and Missing Families Forum‘, das seit Monaten eine Einigung zur Freilassung der Dutzenden von Gefangenen fordert, die noch in Gaza sind, schwor, dass ‚das Land zittern‚ werde, nachdem die Geiseln am Samstag entdeckt wurden. Am Sonntag wiederholte US-Präsident Joe Biden das Mantra seiner Regierung, dass sie ‚rund um die Uhr an einer Einigung zur Freilassung der verbleibenden Geiseln arbeiten‘ und machte ‚bösartige Hamas-Terroristen‘ für den Tod der sechs Gefangenen verantwortlich. Doch wie der Journalist Mohammad Alsaafin erklärte, stellten Biden und seine Regierung ‚Netanjahus Überleben und die Vernichtung Gazas über alles andere‘, einschließlich des Lebens der Gefangenen in Gaza.“ (1)

Aber dann folgte ein langsames Absetzen der Biden-Regierung von Netanjahu, wie die Autorin schreibt. Demnach hat Biden erklärt, dass Netanjahu „nicht genug getan“ habe. Und angeblich sei die USA kurz davor, der israelischen Regierung ein Ultimatum zu stellen.

Aber, so die Autorin, wenn die USA ihren Einfluss auf Israel nicht tatsächlich geltend machen – durch Waffenembargos, die Zurückhaltung ihres Vetos im UN-Sicherheitsrat und andere Mittel –, gebe es wenig Grund zu der Annahme, dass ein Angebot des Weißen Hauses, das man entweder annehmen oder ablehnen kann, zu einer Einigung führen wird, um das Blutvergießen in Gaza zu beenden und das Leben der verbleibenden Gefangenen zu retten. Es bestehe eigentlich nur eine sehr geringe Chance auf Einigung.

Die rund 100 Gefangenen, erklärt Murphay, – die meisten davon Kinder, Frauen und ausländische Arbeiter –, die während eines einwöchigen Waffenstillstands im November freigelassen wurden, wurden von der Hamas „aus ihrer Sicht ohne Gegenleistung“ freigelassen. Und Murphy bezieht sich dabei auf den Haaretz-Analysten Amos Harel. Damals, so Harel, habe die Hamas gedacht, der Austausch würde zu einem günstigeren zweiten Abkommen führen, ohne dass Israel den südlichen Gazastreifen erobert. Doch ein zweites Abkommen war nicht zustande gekommen, und Israel hatte seine Bodenoffensive in Khan Younis und Rafah gestartet, bei der weitere zehntausende Palästinenser getötet wurden und kein Gebiet Gazas verschont blieb.

„Dass die sechs am Samstag tot aufgefundenen Gefangenen nicht lebend, sondern in Leichensäcken nach Israel zurückgebracht wurden, ist ein düsteres, wenn auch vorhersehbares Ergebnis der monatelangen Waffenstillstands-Farce, die nur dazu gedient hat, Israels Völkermord in Gaza zu verlängern. Es war Washington, das Israel seit dem 7. Oktober rund 50.000 Tonnen Waffen geliefert hat, das darauf bestand, dass ein Waffenstillstand zwischen einer Regierung, die einen Völkermord begeht, und ihren Opfern ausgehandelt werden sollte, anstatt ihn durch die Durchsetzung des Völkerrechts aufzuzwingen. Für Israel und die USA bestand der ursprüngliche Zweck der Waffenstillstandsverhandlungen darin, ‘als Feigenblatt für Israel zu dienen, um seinen Völkermordfeldzug im Gazastreifen fortzusetzen‘, so der Analyst Mouin Rabbani.“ (Ebd.)

Tatsächlich muss man der Autorin zustimmen, wenn Sie schreibt, dass die USA lediglich Lippenbekenntnisse abgelegt hatten, gleichzeitig aber, statt dem Votum des IGH und der Mehrheit des Sicherheitsrates zu folgen, und eine sofortige Einstellung israelischer Angriffe zu fordern, durch Beharren auf bilateralen Verhandlungen ein Ende des Blutvergießens verhinderten.

Einen interessanten Hinweis gibt die Autorin dann dahingehend, dass es noch einen weiteren Grund, neben dem Wunsch der Fortsetzung des Völkermordes war, weshalb ein Waffenstillstand verzögert wurde. Es sei darum gegangen, eine Vergeltungsaktion des Irans und der Hisbollah nach den diversen Morden Israels, zuletzt in Teheran, zu verzögern. Die USA hatten nämlich keine Lust, in einen größeren Krieg mit dem Iran hereingezogen zu werden. Einen Krieg, den Netanjahu offensichtlich sucht. Ein weiterer, aber nachrangiger Grund für die US-Haltung sei außerdem gewesen, Zeit zu gewinnen, um zusätzliche Truppen in die Region zu entsenden.

Aber auch in Hinsicht auf die Innenpolitik, habe die Verzögerung des Endes des Völkermordes in Gaza der regierenden Partei in den USA genutzt. Die Verhandlungs-Farce habe es der US-Vizepräsidentin und Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris ermöglicht, den „Zwischenrufern, die gegen den Völkermord protestierten, ein Bein zu stellen“, indem sie behauptete, die Regierung arbeite Tag und Nacht an einer Einigung.

Scheitern war vorhersehbar

Der Artikel beschreibt dann die Gründe, warum ein Scheitern von Waffenstillstandsverhandlungen schon frühzeitig sichtbar waren. Er geht zurück bis Ende August, als dann der Verhandlungspartner der Hamas durch Israel getötet worden war.

„Die Nichtteilnahme der Hamas vor dem Kairoer Gipfel ließ die ‚Vermittler untereinander reden‘, wie es der ehemalige britische Diplomat Alastair Crooke in einem Interview in der Sendung Judging Freedom ausdrückte. Unterdessen machte Washington frühere Fortschritte rückgängig, indem es der Hamas einen Vorschlag aufdrängte, der Netanjahus neuen Forderungen entgegenkam. Unbenannte israelische Beamte, die laut dem Nachrichtenportal Ynet den Verhandlungen nahestehen, sagten, dass US-Außenminister Antony Blinken die Gespräche untergraben habe, indem er behauptete, der Ball liege auf der Seite der Hamas, und indem er rund um den Parteitag der Demokraten falschen Optimismus für den heimischen Konsum verbreitete.“ (Ebd.)

Im Artikel wird schließlich darauf hingewiesen, dass der von der Hamas bereits akzeptierte Vorschlag im Einklang mit dem Drei-Phasen-Plan stand, den US-Präsident Joe Biden Ende Mai skizziert hatte. Außerdem entsprach der angenommene Vorschlag der im Juni angenommenen Resolution 2735 des UN-Sicherheitsrats, in der Bidens Waffenstillstandsvorschlag begrüßt wird.

Dann beschreibt die Autorin, welche Forderungen der Hamas durch diese einfach nicht verhandelbar waren. Dies sind der vollständige Abzug der israelischen Streitkräfte aus Gaza, (nicht zu vergessen, dass der IGH erst kürzlich die Besatzung Palästinas durch Israel für illegal erklärte,) das Recht der Palästinenser, sich innerhalb des Territoriums frei zu bewegen, und die Öffnung der Grenzübergänge, um dringend benötigte Hilfe und Güter hereinzulassen, damit die Menschen nach fast einem Jahr Völkermord mit dem Wiederaufbau ihres Lebens beginnen können.

Dass es Netanjahu war, der alles verhinderte, beschrieb sogar die New York Times Mitte August (3). Der Artikel erklärt dann, wie Netanjahu immer wieder neue Forderungen aufgestellt hatte. Aus Formatgründe lesen Sie das im Anhang (4).

Netanjahu und was er will …

Laut Haaretz-Kolumnist Aluf Benn (5) betrachtet Netanjahu die israelischen Gefangenen in Gaza als „ein Medienärgernis, einen Rammbock seiner politischen Gegner und eine Ablenkung vom Ziel: einer längeren Besetzung des Gazastreifens.“ Wie der Plan Netanjahus aussieht, lesen Sie bitte aus Formatgründen in Anhang (6).

Die Schlacht in Gaza sei zu einem Zermürbungskrieg geworden, meint Murphy, aus dem die Streitmacht, die am längsten durchhält, als Sieger hervorgehen werde. Und da Israel Soldaten und Ausrüstung ausgehen, während die Kassam-Truppen ihre Reihen mit Sicherheit auffüllen, ist der wahrscheinliche Ausgang möglicherweise nicht zu Israels Gunsten. Da die Verhandlungen in einer Sackgasse stecken, sähen auch palästinensische Widerstandsgruppen eine umfassende militärische Konfrontation zwischen regionalen Widerstandsgruppen und Israel möglicherweise als einzig praktikablen Weg, um den Völkermord in Gaza zu beenden.

Aber obwohl der palästinensische Widerstand den Widerstand im Libanon aufrief, sich am Kampf zur Befreiung Palästinas zu beteiligen, hat die Hisbollah, und im Hintergrund der Iran, dies bisher verweigert.

Die Autorin glaubt, dass die Hisbollah, davon überzeugt ist, dass das Schicksal Palästinas in palästinensischer Hand erkämpft und gewonnen werden müsse, eine umfassende Konfrontation vermeiden möchte. Sie hatte ihre Reaktionen auf israelische Provokationen sorgfältig abgestimmt, um Tel Aviv keinen Vorwand für einen vollumfänglichen Angriffskrieg zu geben. Der Iran ebenso. Allerdings führt die Hisbollah einen Zermürbungskrieg, der zusammen mit dem anhaltenden Widerstand der Hamas bereits „Israels Wirtschaft, internationale Beziehungen und sozialen Zusammenhalt“ schwer beschädigt hat, wie auch der ehemalige israelische Militärombudsmann General Yitzhak Brik zugab (7).

Aber, so der Artikel weiter, gehe es letztlich um etwas Anderes als neue Siedlungen, Netanjahus Korruptionsprozesse oder Völkermord. Es geht um eine neue Nakba!

„Wie Alastair Crooke (8) in Judging Freedom erklärte, ‚wollen [die Israelis] eine neue Nakba, den Prozess der Vertreibung aller Araber aus dem Land zwischen Fluss und Meer.‘ Die Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat, um sie durch jüdische Siedler zu ersetzen, war schon immer das einzige Organisationsprinzip des Staates. Die Vergeltung nach dem Anschlag vom 7. Oktober bot die Chance, diesen Prozess zu beschleunigen. ‚Das Ziel war immer zuerst Gaza, [dann] das Westjordanland und dann die vollständige Räumung des Gebiets‘, sagte Crooke über Israels opportunistische Strategie nach dem 7. Oktober.“ (1)

Mehr über die Meinung von Crooke in Anhang (9).

Dann erklärt die Murphy, wie Netanjahu, nachdem er im US-Kongress stehende Ovationen erhalten hatte, alles daran setzte, einen regionalen Flächenbrand zu provozieren und verweist dabei auf Beobachtungen, die Alexander Mercouris in einer Sendung von „The Duran“ machte (10).

Laut Analyst John Mearsheimer (in der gleichen Sendung) sehen diejenigen in Israel, die einen regionalen Krieg anstreben, darin wahrscheinlich eine historische Gelegenheit, mehr Palästinenser aus ihrer Heimat zu vertreiben, wie es bei den ethnischen Säuberungen während der Kriege von 1948 und 1967 der Fall war. Ein Krieg würde eine Tarnung für die „Ausdünnung“ der palästinensischen Bevölkerung in Gaza bieten – eines von Netanjahus strategischen Zielen –, während die Zerstörung des Irans den Verlust der wichtigsten Quelle materieller Unterstützung für den palästinensischen Widerstand bedeuten würde. Die Ausschaltung jeglicher Ausübung palästinensischer Selbstbestimmung – sei es durch bewaffneten Widerstand oder anderweitig – so die Meinung in der Diskussion, sei für eine israelische Regierung, die jeden Kompromiss mit den Palästinensern kategorisch ablehnt, unabdingbar.

Glenn Diesen meinte in diesem Gespräch, dass Israel es als Sieg ansehen würde, wenn man eine mögliche diplomatische Lösung zur Schaffung eines palästinensischen Staates ausschließen konnte.

Netanjahu ermächtigt Israels Brandstifter

Selbst das Militär, so der Artikel von Murphy (1), stehe nicht mehr hinter Netanjahu, und dieser habe die abweichende Meinung der Generäle bekämpfen müssen, indem er extremst Rechten in der Regierung mehr Machtbefugnisse verlieh. So zum Beispiel Ben-Gvir, einem bekennenden Verehrer des Vorkämpfers für jüdischen Rassismus Meir Kahane, dem Gründer des Kahanismus, dessen Anhänger Massenmorde begingen. Ben-Gvir wurde erlaubt, sich de facto eine eigene Miliz aufzubauen, indem er die Kontrolle über Israels Polizei, Grenzschutz und Gefängnisdienst erhielt. Damit gibt es eine zweite große bewaffnete Kraft, neben der bisher einzigen, dem Militär.

Was nicht in dem Artikel steht, mich aber seit einiger Zeit umtreibt, ist die Befürchtung, dass dies die Vorbereitung sein könnte, um durch die Androhung eines Bürgerkrieges, die Gründung eines palästinensischen Staates zu verhindern. Ein solcher könnte nur entstehen, wenn die illegalen Siedlungen mit ca. 700.000 eingewanderten, inzwischen meist bewaffneten, Siedlern, zumindest zu größten Teil, geräumt würden. Selbst wenn sich der größere Teil der Armee zur Durchsetzung dieser Maßnahme bereit erklären sollte, ist dies nun durch die Bewaffnung der Siedler und der neuen Kompetenzen für Ben-Gvir nur mit einem Bürgerkrieg möglich.

USA beschleunigen Israels Untergang

Murphy weiter:

„Die USA (…) bieten Israel bedingungslose Unterstützung und absolute Straffreiheit, während es einen Völkermord an den Palästinensern begeht und Tel Aviv gegen sein Hauptinteresse handelt: das Überleben. In einem 16-seitigen Dokument, in dem die Gründe für den Angriff vom 7. Oktober dargelegt werden, erklärte die Hamas, dass die Pläne der rechtsextremen Regierung unter Netanjahu, die Palästinenser aus ihrer Heimat zu vertreiben, sie unter anderem dazu zwingen, eine Verteidigungsmaßnahme zu ergreifen um die Liquidierung der palästinensischen Sache zu verhindern. Die USA haben eine Schlüsselrolle bei dem Versuch gespielt, die palästinensische Befreiungsbewegung auszulöschen, und zwar durch ihren endlosen Oslo-Friedensprozess, ihren Ansatz des unbefristeten Konfliktmanagements und ihren Vorstoß für Normalisierungsabkommen zwischen Israel und autokratischen arabischen Staaten (…).“

Mit diesen Mitteln, so der Artikel weiter, habe Washington Israel erlaubt, seine Kontrolle zu festigen und die Kolonisierung palästinensischen Landes zu beschleunigen. Und nun kommt der Artikel zu einem wichtigen Punkt, der auch von mir seit Jahren gegen die deutsche „Staatsräson“ vorgebracht wird: Diese Ermächtigung Israels durch Washington (und die deutsche Staatsräson) schuf die Voraussetzungen für den Aufstieg von Ben-Gvir und seinesgleichen – eine Situation, die die USA nun als große Sicherheitsbedrohung für Israel anerkennen, selbst wenn die Amerikaner ihre kurzsichtige und katastrophale Politik verdoppeln.

Im weiteren Verlauf des langen Artikel erklärt Murphy, warum das Schicksal der Palästinenser der US-Politik (und logischerweise auch der deutschen Politik) egal ist, und dass sie kein Interesse daran haben, die Grundursachen des Konfliktes zu lösen, statt einen Völkermord zu verhindern, der ja auch eine „Lösung“ darstelle.

Wir erinnern uns, dass die Grundursache darin bestand, dass Großbritannien das Land zunächst den Arabern versprach, und dann aber teilweise den Israelis zuschlug, ohne die dort wohnende einheimische Bevölkerung zu befragen. Wie einer der Gründer Israels, Herzl sagte, die Gründung eines kolonialen Projektes. Das war der Ursprung des Konfliktes.

Wie die Autorin mit Zitaten den Höhepunkt des Zionismus beschreibt, lesen Sie bitte in Anhang (11).

Israels Regierung als Terrororganisation

Es war ein Journalist der israelischen Zeitung Haaretz, Zvi Bar’el, der erklärte, dass die Tatsache, dass Ben-Gvir überhaupt Minister werden konnte, beweise, dass die Regierung sich „in eine Terrororganisation verwandelt, in der Ben-Gvir als militärischer Arm fungiert.“(12) Der Chef dieser Terrororganisation, Benjamin Netanjahu, stehe laut Verteidigungsminister Gallant an einem „strategischen Scheideweg“ und habe die Wahl zwischen einem Waffenstillstandsabkommen und einem Krieg an mehreren Fronten. Netanjahu strebe Letzteres an, während er mit dem Militär im Streit liege und die israelische Gesellschaft von innen heraus rapide verfalle.

Es gibt inzwischen immer mehr Stimmen, auch in der konservativ zionistischen Gemeinschaft, die davor warnen, dass das Land auf einen Abgrund zugeht, und Israel implodieren könnte, wenn der Zermürbungskrieg gegen Hamas und Hisbollah wie bisher weiter geht. Einer von ihnen ist Amos Harel, auch in Haaretz, der letzten verbliebenen rationalen Medienstimme in Israel. Er erklärte, dass sich Israel auf einem „langen und anhaltenden Abwärtstrend“ befinde.

Fazit

Wie so oft lebt die westliche Elite in einer Blase der Selbstgerechtigkeit, welche den Blick für die Realität verdeckt. Ein wenig dürfte der jordanische Außenminister rein physisch durch den Nebel der eigenen Vorurteile gedrungen sein, als er der deutschen Außenministerin Annalena Bearbock die Realität beschrieb (13). Aber ob das auch intellektuell zu einer Erkenntnis der Notwendigkeit einer Veränderung der Politik führt, darf man wohl nicht erwarten. Seit Juni ist die Armee Israels nun „bereit für einen vollumfänglichen Krieg gegen die Hisbollah“. Aber noch hat er nicht begonnen.

Quellen und Anmerkungen

  Der Autor twittert zu tagesaktuellen Themen unter https://x.com/jochen_mitschka

(1) https://electronicintifada.net/content/what-israels-endgame/48676

(2) https://www.youtube.com/watch?v=nFpKVE7aO4U

(3) https://www.nytimes.com/2024/08/13/world/middleeast/israel-gaza-cease-fire-talks.html

(4) „Während der jüngsten Bemühungen um ein Abkommen fügte Netanjahu Bedingungen hinzu, von denen er wusste, dass sie für die Hamas ein Dealbreaker sein würden, und frustrierte damit sein eigenes Verhandlungsteam, während die Amerikaner weiterhin die Palästinenser für die Sackgasse verantwortlich machten. John Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsdienstes des Weißen Hauses, bekräftigte diesen Standpunkt am Donnerstag und erklärte, dass ‚das größte Hindernis für ein Waffenstillstandsabkommen die Hamas ist‘, trotz aller gegenteiligen Beweise. Netanjahu hat auch darauf bestanden, Truppen im Netzarim-Korridor zu belassen, um Palästinenser zu inspizieren, die in den Norden Gazas zurückkehren, und auch die direkte Kontrolle über den Grenzübergang Rafah zu behalten, wobei Ägypten letztere Forderung abgelehnt hat. Der israelische Premierminister will auch ein Vetorecht darüber, welche palästinensischen Gefangenen im Rahmen eines Abkommens freigelassen werden, und dass freigelassene palästinensische Gefangene aus ihrem Heimatland ausgewiesen werden – eine Bedingung, die von der Hamas und den Palästinensern im Allgemeinen vehement abgelehnt würde.

Am Freitag, dem 30. August, beschloss Netanjahus Kabinett, die Armeepräsenz im Korridor als Teil einer Vereinbarung zur Geiselbefreiung beizubehalten. Nur Verteidigungsminister Yoav Gallant stimmte laut Haaretz gegen diese Maßnahme. In der nichtöffentlichen Sitzung sagte Gallant Berichten zufolge zu Netanjahu, sein Beharren auf der Festhaltung des Philadelphi-Korridors würde ‚alle Geiseln töten‘ – und deutete damit das Schicksal der sechs Gefangenen an, die am nächsten Tag tot aufgefunden wurden.“ (Ebd.)

(5) https://www.haaretz.com/israel-news/2024-08-21/ty-article/.premium/netanyahus-war-goal-is-not-the-hostages-return-its-the-occupation-of-gaza/00000191-7477-d7fc-ab93-f67774cb0000

(6) „‘In der Praxis wird eine langfristige Vereinbarung für ‚den Tag danach‘ ausgearbeitet. Israel wird den nördlichen Gazastreifen kontrollieren und die 300.000 Palästinenser vertreiben, die sich noch dort aufhalten‘, schreibt Benn. ‚Die israelische Rechte stellt sich eine jüdische Besiedlung des Gebiets vor, mit großem Immobilienpotenzial, günstiger Topografie, Meerblick und Nähe zu Zentralisrael‘, fügt Benn hinzu. Die Wiederbesiedlung des nördlichen Gazastreifens wird schrittweise erfolgen – ‚Hektar für Hektar, Wohnwagen für Wohnwagen, Außenposten für Außenposten – genau wie in Hebron, Elon Moreh und Gilad Farm‘ im Westjordanland, so Benn. Der Süden Gazas ‚wird der Hamas überlassen, die sich um die mittellosen Bewohner unter israelischer Belagerung kümmern muss, selbst wenn die internationale Gemeinschaft das Interesse an der Geschichte verliert und sich anderen Krisen zuwendet.‘

Ein weiteres Indiz für Netanjahus Plan für einen unbefristeten Einsatz in Gaza ist die Ernennung eines Brigadegenerals zum Leiter der wiederhergestellten israelischen Zivilverwaltung im Gazastreifen – ‚ein Spiegelbild eines ähnlichen Apparats im Westjordanland‘, so der Völkerrechtsexperte Itay Epshtain – wobei beide Generäle Smotrich unterstellt sind. Doch ein Plan für einen unbefristeten israelischen Militäreinsatz in irgendeinem Teil Gazas, ganz zu schweigen von der Verlegung von Siedlern, setzt eine Niederlage der Hamas voraus – was kaum eine ausgemachte Sache ist – und Netanjahu hat keine praktikable ‚Strategie für den Tag danach‘, um diese Vision zu verwirklichen.“

(7) https://www.haaretz.com/opinion/2024-09-03/ty-article-opinion/.premium/it-is-not-hamas-that-is-collapsing-but-israel/00000191-b3bf-dffe-abf9-bfffd0a50000

(8) https://english.almayadeen.net/authors/1492581/alastair-crooke

(9) „Netanjahu hat daher kein Interesse daran, Truppen aus Gaza abzuziehen, und würde das Gemetzel nach jedem Gefangenenaustausch wieder aufnehmen, „weil Gaza von der palästinensischen Bevölkerung gesäubert werden muss“, um den größeren Plan seines Kabinetts umzusetzen, so Crooke. Netanjahus Kabinett wünscht sich einen regionalen Krieg, der die Vereinigten Staaten dazu bringen würde, im Namen Israels zu kämpfen und den Iran, die Hisbollah und andere regionale Gruppen, die mit dem palästinensischen Widerstand verbündet sind, zu zerstören.“

(10) Zu diesen Provokationen gehörten die Ermordung des Hamas-Führers Ismail Haniyeh in Teheran (die Israel zugeschrieben wird, das seine Verantwortung weder bestätigt noch dementiert hat), Stunden nach der Ermordung des Hisbollah-Oberkommandanten Fuad Shukr in Beirut (Israel übernahm in diesem Fall die Verantwortung) und die wiederholte Sabotage der von den USA geführten Waffenstillstandsverhandlungen.

(11) Der Höhepunkt des Zionismus

Francesca Albanese, die UN-Sonderberichterstatterin für das Westjordanland und den Gazastreifen, ordnet den Völkermord in Gaza in den dynamischen, strukturellen Prozess des Siedlerkolonialismus ein, wobei die völkermörderische Ausrottung und Vernichtung den Höhepunkt dieses Prozesses darstellt. Und wenn der Völkermord in Gaza den Höhepunkt dieses Siedlerkolonialismus darstellt, dann stellen Ben-Gvir und Smotrich möglicherweise den Höhepunkt seines ideologischen Ausdrucks dar: den Zionismus. Washington vermeidet zwar die Verwendung von Worten zum Völkerrecht und zu den Rechten der Palästinenser, scheint aber zumindest zu erkennen, dass Ben-Gvir und der Teil der israelischen Gesellschaft, den er vertritt, eine direkte Bedrohung für den Staat darstellen. Matt Miller, Sprecher des US-Außenministeriums, sagte kürzlich, dass Ben-Gvirs „anhaltende rücksichtslose Äußerungen und Handlungen … nur Chaos säen und Spannungen verschärfen“, während Israel sich auf regionale Bedrohungen konzentrieren müsse. „Sie untergraben direkt die Sicherheit Israels“, fügte er hinzu. Das US-Außen- und Finanzministerium haben verspätet Sanktionen gegen eine Handvoll Personen und Organisationen verhängt, die Ben-Gvir nahestehen, zuletzt gegen die Siedler-Bürgerwehr Hashomer Yosh, die von der israelischen Regierung finanziert wird, und Yitzhak Levi Filant, den zivilen Sicherheitskoordinator der berüchtigten Yitzhar-Siedlung im Westjordanland. Anfang dieses Jahres verhängte die US-Regierung Sanktionen gegen mehrere einzelne Siedler und eine Handvoll Außenposten im Westjordanland (Siedlungen, die von der israelischen Regierung nicht offiziell anerkannt werden). Washington hat außerdem extremistische Gruppen auf eine schwarze Liste gesetzt, die sanktionierte Personen unterstützen und humanitäre Hilfe daran hindern, nach Gaza zu gelangen. Die von den USA verhängten Sanktionen werden wahrscheinlich ähnliche und weitreichendere Maßnahmen anderer Länder, insbesondere der EU-Staaten, nach sich ziehen. Reuters berichtete am 29. August, dass Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte, sagte: „Er hat die Mitglieder des Blocks gebeten, Sanktionen gegen zwei israelische Minister wegen ‚Hassbotschaften‘ gegen Palästinenser zu erwägen, Botschaften, die seiner Meinung nach gegen das Völkerrecht verstoßen.“ „Er hat keinen der Minister namentlich genannt“, fügte Reuters hinzu. Die Nachrichtenagentur stellte fest, dass Borrell Ben-Gvir und Smotrich zuvor namentlich kritisiert hatte „für Aussagen, die er als ‚finster‘ und ‚eine Anstiftung zu Kriegsverbrechen‘ bezeichnet hat.“ Für Palästinenser, die in Gefahr sind, wird all das zu wenig und zu spät erscheinen, wie etwa die Aussetzung von 30 Waffenexportlizenzen an Israel durch London, nachdem eine zweimonatige Überprüfung des israelischen Verhaltens in Gaza ein „klares Risiko“ ergab, dass britische Waffen zur Verletzung des humanitären Völkerrechts eingesetzt werden könnten. Doch diese Maßnahmen stellen Risse in der Mauer der Straflosigkeit dar und werden Israels Status als Pariastaat bestätigen. Wie The Guardian bemerkte, „betreffen die Aussetzungen ein Zehntel der 350 bestehenden Lizenzen und umfassen keine Teile für das F-35 Joint Fighter Strike-Programm, es sei denn, das von Großbritannien gelieferte Teil ist speziell für ein Düsenflugzeug bestimmt, das ausschließlich von Israel verwendet wird.“ Israels treueste Verbündete pflücken immer noch nur die am niedrigsten hängenden Früchte. Unterdessen laufen Ben-Gvir und Smotrich herum und werfen im übertragenen Sinne Kerosin auf den Scheiterhaufen, während ihre extremistischen Siedlerkollegen bei Pogromen in palästinensischen Dörfern buchstäblich Feuer entzünden. (1)

(12) https://www.haaretz.com/opinion/2024-08-28/ty-article-opinion/.premium/ben-gvir-is-the-military-arm-of-israels-terror-organization-government/00000191-9543-df0a-ab9f-f54bcc220000

(13) https://x.com/_duman____/status/1832519205230670305

+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: zef art / Shutterstock.com


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