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WHO kann auf Verdacht Pandemien ausrufen | Von Norbert Häring

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IHR-Reform angenommen.

In einer Nacht und Nebelaktion hat die Weltgesundheitsversammlung am 1. Juni einen der Öffentlichkeit bis dahin unbekannten Text zur Reform der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IHR) angenommen. Zur Reform gehört, dass der WHO-Generaldirektor künftig schon eine Pandemie ausrufen kann, wenn er die Gefahr sieht, dass Gesundheitssysteme überlastet werden, wie es bei jeder größeren Grippeepidemie der Fall ist. Ein WHO-Pandemievertrag soll innerhalb eines Jahres vereinbart werden.

Ein Kommentar von Norbert Häring.

Die Weltgesundheitsversammlung ist das Entscheidungsgremium der WHO. Der 1. Juni war der letzte Tag der diesjährigen Versammlung in Genf. Kurz nach 21 Uhr verabschiedete die Versammlung Ergänzungen der IHR, über die noch bis wenige Stunden vorher verhandelt worden war. Ein Text war daher den abstimmenden Delegationen bis wenige Stunden vor der Abstimmung nicht bekannt. Ein Abstimmungsergebnis hat die WHO nicht mitgeteilt. Möglicherweise handelt es sich um eine Annahme im Konsens.

Die Öffentlichkeit erfuhr erst danach, was da beschlossen wurde, wobei der veröffentlichte Text noch nicht einmal in Reinform gebracht wurde. Er enthält noch Streichungen und Fettungen und vorläufige Bezeichnungen der einzufügenden Absätze.

In der Pressemitteilung der WHO werden vier Neuerungen kurz beschrieben.

Einführung einer Definition des pandemischen Notfalls, um eine wirksamere internationale Zusammenarbeit als Reaktion auf Ereignisse auszulösen, die zu einer Pandemie zu werden drohen oder bereits zu einer Pandemie geworden sind. Die Definition des pandemischen Notfalls stellt eine höhere Alarmstufe dar, die auf den bestehenden Mechanismen der IHR aufbaut, einschließlich der Feststellung eines gesundheitlichen Notfalls von internationaler Tragweite. Nach dieser Definition ist eine Pandemie eine übertragbare Krankheit, die sich geografisch weit in mehrere Staaten ausbreitet oder bei der ein hohes Risiko besteht, dass sie sich in mehreren Staaten ausbreitet, die Kapazitäten der Gesundheitssysteme in diesen Staaten übersteigt oder bei der ein hohes Risiko besteht, dass sie diese übersteigt; die erhebliche soziale und/oder wirtschaftliche Störungen verursacht oder bei der ein hohes Risiko besteht, dass sie erhebliche soziale und/oder wirtschaftliche Störungen verursacht, einschließlich der Störung des internationalen Verkehrs und Handels; und die ein rasches, gerechtes und verstärktes koordiniertes internationales Handeln mit Ansätzen für die gesamte Regierung und die gesamte Gesellschaft erfordert;

Verpflichtung zu Solidarität und Gerechtigkeit bei der Verbesserung des Zugangs zu medizinischen Produkten und der Finanzierung. Dazu gehört auch die Einrichtung eines koordinierenden Finanzierungsmechanismus, der die Ermittlung von und den Zugang zu Finanzmitteln unterstützt, die erforderlich sind, um „den Bedürfnissen und Prioritäten der Entwicklungsländer gerecht zu werden, einschließlich der Entwicklung, des Ausbaus und der Aufrechterhaltung von Kernkapazitäten und andere Kapazitäten für die Prävention, Bereitschaft und Reaktion auf Pandemien;"

Einrichtung eines Ausschusses der Vertragsstaaten, der die wirksame Umsetzung der geänderten Verordnungen erleichtern soll. Der Ausschuss wird die Zusammenarbeit zwischen den Vertragsstaaten bei der wirksamen Umsetzung der IHR fördern und unterstützen; und

Einrichtung nationaler IHR-Behörden zur besseren Koordinierung der Umsetzung der Verordnungen in und zwischen den Ländern.

Um die IHR-Reform auf dieser Weltgesundheitsversammlung regelgerecht verabschieden zu können, hätte laut Artikel 52 IHR vier Monate vorher ein abstimmungsfähiger Text vorliegen und verteilt werden müssen. Diese Regelung soll es Regierungen, Parlamentariern und Bürgern der Unterzeichnerstaaten ermöglichen, Inhalt und Reichweite der beabsichtigten Reform zu prüfen und zu diskutieren. Über diese zwingende prozedurale Vorschrift hat sich die WHO einfach hinweggesetzt.

Die „pandemische Notlage“ und das Gremium zur Überprüfung der Umsetzung der IHR tauchten am 17. April 2024 zum ersten Mal in den Dokumenten des Verhandlungsgremiums zur IHR-Reform auf.

Gegeben ist eine pandemische Notlage, wenn sich eine Infektion über mehrere WHO-Regionen hinweg ausbreitet oder sich auszubreiten droht, wenn Gesundheitssysteme dadurch überlastet werden könnten oder irgendwelche schwere Verwerfungen drohen.

Bastian Barucker kommentiert das auf X treffend:

„Besonders die Formulierung „oder ein hohes Risiko besteht“ ist ein Einfallstor für die willkürliche Ausrufung eines pandemischen Notfalls, ohne diese faktisch begründen zu müssen. Wie die RKI-Protokolle zeigen, hat die Behörde die Gefahreneinschätzung hinsichtlich Covid-19 ohne vorzeigbare Nachweise für eine dafür vorhandene Faktenbasis hochskaliert. Es wurde außerdem Jahre lang von einer möglichen außergewöhnlichen Überlastung des Gesundheitssystems gesprochen, ohne dass diese jemals eingetroffen ist. Grundrechtseinschränkungen sollten aber nicht auf eventuellen Risiken begründet werden können, sondern müssen eindeutig begründet sein und nicht auf Vorhersagen beruhen.“

Die neue Kategorie der pandemischen Notlage ist vor allem deshalb sonderbar und verdächtig, weil sie an keiner der 21 Stellen nach der Einführung des Begriffs eine eigenständige Konsequenz entfaltet. Nirgends steht, dass etwas daraus folgt, wenn ein gesundheitlicher Notfall von internationaler Tragweite zusätzlich als „pandemische Notlage“ eingestuft wird. Der WHO-Generaldirektor soll aber in jedem Fall, wenn er eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite ausruft, explizit machen, ob er sie darüber hinaus als eine „pandemische Notlage“ einstuft.

Man kann nur mutmaßen, warum es dem IHR-Verhandlungsgremium wichtig war, diese scheinbar sinnlose zusätzliche Definition einzuführen. Eine Möglichkeit ist, dass die „pandemische Notlage“ erst durch den WHO-Pandemievertrag mit einer Bedeutung versehen werden soll.

Die Vertragsstaaten müssen als Kernkompetenz ihre Risikokommunikation, einschließlich der Bekämpfung von Fehl- und Desinformationen entwickeln, stärken und beibehalten und dies spätestens fünf Jahre nach Inkrafttreten der geänderten IHR umsetzen (Annex 1 A, Art. 13 Abs. 1). Die Vertragsstaaten verpflichten sich damit zur Informationskontrolle.

Die Internationalen Finanzinstitutionen, z.B. IWF und Weltbank, sollen durch eine Ergänzung in Artikel 44 darauf eingeschworen werden, die Notwendigkeiten und nationalen Prioritäten von Entwicklungsländern bei der Umsetzung der IHR zu berücksichtigen.

Das bedeutet im Klartext, dass die Kredite und Zuschüsse der Internationalen Finanzorganisationen und deren Verweigerung als Druckmittel eingesetzt werden sollen, um ärmere Länder zu Umsetzung der Empfehlungen der WHO zu drängen oder zu nötigen.

Keinen Eingang in das Reformdokument fanden der sogenannte One-Health-Ansatz und die damit zusammenhängende Ermächtigung der WHO, jede Zoonose und auch Ereignisse und Entwicklungen mit indirekten Auswirkungen auf die Gesundheit, wie zum Beispiel den Klimawandel, zur Gesundheitsnotlage erklären zu können.

Es gibt darin auch keine verbindlichen Regelungen zur Aussetzung von Patentrechten oder zur verpflichtenden Abgabe von Medikamenten an die WHO zur Verteilung an ärmere Länder im Pandemiefall.

WHO-Pandemievertrag soll kommen

Die Verhandlungen zur Reform der IHR wurden im Schatten der öffentlich deutlich stärker beachteten, aber mutmaßlich weniger wichtigen Verhandlungen zu einem WHO-Pandemievertrag geführt. Diese wurden kurz vor der Weltgesundheitsversammlung für vorläufig gescheitert erklärt.

Die Mitgliedsländer haben nun vereinbart, die Verhandlungen für einen Pandemievertrag fortzusetzen. Das Verhandlungsgremium (INB) soll spätestens bis zur nächsten Weltgesundheitsversammlung in einem Jahr ein Ergebnis erreichen. Falls es früher gelingt, soll der Vertrag in einer außerordentlichen Weltgesundheitsversammlung verabschiedet werden.

Weiteres Verfahren

Die IHR-Reform wird zehn Monate nach der Annahme durch die Weltgesundheitsversammlung für alle Länder bindend, die nicht nach Art. 59 IHR innerhalb dieser Frist für sich eine Ausnahme reklamieren. Die Frist wurde im Vorgriff auf die jetzige IHR-Reform verkürzt.

Die Vertreterin der Schweiz sagte nach der Abstimmung, die Schweiz werde nun „wie andere Unterzeichnerstaaten“ interne Verfahren einleiten und prüfen, ob die Änderungen auf nationaler Ebene umgesetzt werden können. Das Aktionsbündnis freie Schweiz (ABF) sieht dadurch das von ihr beauftragte Rechtsgutachten bestätigt, das zu dem Schluss kam, dass die IHR-Reform dem Parlament unterbreitet werden muss. Das stützt sich darauf, dass laut Schweizer Verfassung der Bundesrat (Regierung) internationale Verträge unterzeichnet und diese der Bundesversammlung (Parlament) zur Genehmigung vorlegt. Eine Online-Petition des ABF, die den Bundesrat auffordert, die Ablehnung der IHR-Reform zu erklären, läuft noch bis 1. August.

Ein entsprechendes Rechtsgutachten für Deutschland ist mir nicht bekannt.

In den USA hat die republikanische Hälfte des Senats Anfang Mai in einem Brief an den Präsidenten gerügt, dass prozedurale Vorschriften nicht eingehalten wurden und deutlich gemacht, dass sie die IHR-Reform als internationalen Vertrag betrachtet, für dessen Verabschiedung eine Zweidrittelmehrheit des Senats nötig sei. Die republikanischen Senatoren kündigten an, dass sie nicht zustimmen werden.

Für Tagesschau.de und für die 14-Uhr-Ausgabe der Tagesschau war die Verabschiedung der IHR-Reform keine Meldung wert. Für das Netzwerk kritischer Richter und Staatsanwälte hat Laura Kölsch die Einigung auf die IHR-Reform in einem Update kommentiert.

+++ Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 2. Juni 2024 bei norberthaering.de +++ Bildquelle: Manoej Paateel / shutterstock


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