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Wie vor 83 Jahren - schreckliche Bilder von der polnischen Grenze | Von Wolfgang Effenberger

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Ein Standpunkt von Wolfgang Effenberger.

Am Morgen des 9. November 2021 stellte Polen nach Angaben des Grenzschutzes den Grenzverkehr  zu Weißrussland für Waren und Personen am Übergang Kuznica ein, nachdem angeblich „große Gruppen von Migranten (bis zu viertausend aus Afghanistan und dem Irak) versucht hätten, die EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus zu durchbrechen“. (1)

Die EU hat die Wahl Alexander Lukaschenkos zum Präsidenten Weißrusslands nicht anerkannt und wirft nun dem belarussischen "Machthaber" vor, die Menschen in die EU zu schleusen und damit die Migration als Waffe zu benutzen. Folgerichtig fordert nun EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zusätzliche Sanktionen gegen Belarus, damit die "zynische Instrumentalisierung von Migranten" aufhört.

Für von der Leyen steht unverrückbar fest, dass die belarussischen Behörden für diesen hybriden Angriff verantwortlich sind. Welche Beweise hat sie? Und wie gelangen die vor allem aus Afghanistan kommenden Flüchtlinge nach Weißrussland? Anfang August wurden ja nach Meinung vieler grüner und linker Politiker nicht genügend "Ortskräfte" ausgeflogen. Und die Taliban wurden mit Geldzuwendungen in Millionenhöhe dazu gebracht, Ausreisewillige ungehindert gehen zu lassen. Wie also kommen sie nach Belarus? Ein Blick auf die Karte zeigt, dass das nicht so einfach ist. Eine solche Schleusung geht nur über den Lufttransport. Und dazu braucht es Komplizen. Von der Leyens Parteifreund Manfred Weber sieht in der Türkei eines der Länder, von denen aus die Migranten nach Belarus gelangen:

„Wenn der türkische Präsident (Recep Tayyip) Erdogan nun mittels zahlreicher Migranten-Flüge aus der Türkei nach Belarus neue Erpressungsversuche gegen die EU unternimmt, braucht es eine unmissverständliche Antwort“ und weiter: „Damit wird er genauso scheitern wie mit seinem Versuch, Migranten über die griechisch-türkische Grenze zu schleusen. Die Kommission muss umgehend Gespräche mit der türkischen Regierung aufnehmen.“ (2)

Während die EU-Granden ansonsten mit der Aufnahme von Flüchtlingen alles andere als zurückhaltend sind, veranstalten sie hier einen unglaublichen Eiertanz gegen den angeblichen Urheber Lukaschenko. Und das auf Kosten der hin- und hergestoßenen Migranten.

Migranten aus Weißrussland stoßen auf polnische Grenze. (3) Ähnliche Bilder gab es Anfang November 1938 an der deutsch-polnischen Grenze.

Oktober/ November 1938 Im Niemandsland zwischen Deutschland und Polen. (4)

Am 1. Oktober 1938 marschierte Deutschland in das 1919 an die Tschechoslowakei gefallene deutschsprachige Sudetengebiet ein; tags darauf annektierte Polen die tschechische Region Teschen-Olsa – beide Nationen hatten dafür im "Münchener Abkommen" vom 29. September 1938  grünes Licht bekommen. Die Waffenfreundschaft währte nicht lange. Schon am 9. Oktober veröffentlichte die polnische Regierung ein Dekret, nach dem die Pässe aller länger als fünf Jahre im Ausland lebenden Polen ohne Sondervisum eines zuständigen Konsulats am 30. Oktober ablaufen sollten. Vom 31. Oktober an berechtigte nur noch ein besonderer Prüfvermerk polnischer Konsulate zur Einreise nach Polen. Das Gesetz galt zwar für alle Polen, die hintergründige Absicht scheint jedoch gewesen zu sein, die annähernd  50.000 zumeist verarmten polnischen Juden, die in der Masse nach dem ersten Weltkrieg in  Deutschland lebten, auszubürgern.

Die Mehrzahl von ihnen wäre am 30. Oktober staatenlos geworden. Daraufhin forderte die deutsche Regierung von Polen am 26. Oktober ultimativ, eine Aufnahme der staatenlosen Rückkehrer zu garantieren, da man sie ansonsten ausweisen müsse. In Deutschland sollte nämlich bei Verlust der Staatsangehörigkeit Ausländern automatisch die Aufenthaltsgenehmigung entzogen werden. Auch Deutschland wollte also die polnischen Juden loswerden.

Am 28. und 29. Oktober 1938 hatten die deutschen Behörden auf Anweisung der nationalsozialistischen Regierung an die 17.000 in Deutschland lebende polnische Juden verhaftet, meist per Eisenbahntransport an die polnische Grenze verfrachtet und mit der Aufforderung an die polnische Grenze geschickt, ihren polnischen Pass bis zum Stichtag 30. Oktober 1938 zu verlängern. Polen sperrte sofort die Grenze, und ohne gültigen Pass wurde niemand nach Deutschland zurückgelassen. Was für ein perverses Spiel! In Deutschland war die Entrechtung nicht nur der polnischen Juden schon weit vorangeschritten. Mit tatkräftiger Hilfe der Juristen war bereits eine Unmenge von Gesetzen verabschiedet worden. (5)

Die Anmeldepflicht für jüdische Vermögen vom April 1938, die Kennzeichnung jüdischer Gewerbebetriebe vom Juni, der Kennkartenzwang, die Berufsverbote für Ärzte und Rechtsanwälte, der Zwang zur Annahme jüdischer Vornamen und letztlich die Kennzeichnung der Reisepässe Anfang Oktober 1938 – all das waren Vorbereitungen zur endgültigen Ausschaltung der Juden. (6)

Die polnische Regierung hatte auch das Auslandsvermögen der deutsch-polnischen Juden  im Blick. Sie befürchtete, dass Deutschland den jüdischen Besitz enteignen und so die Kontrolle über die polnischen Raffinerien erlangen könnte. Als vorbeugende Maßnahme schlug der polnische Botschafter in Berlin, Jozef Lipski, vor, sich bei der Enteignung des Besitzes polnisch-jüdischer Bürger in Deutschland „passiv zu verhalten". „Im Gegenzug sollte sich die deutsche Regierung verpflichten, Juden nicht nach Polen auszuweisen und die im Besitz deutscher Staatsangehöriger befindlichen Aktien der polnischen Ölindustrie an Polen zu übergeben.“ (7)

Vor diesem Hintergrund setzte sich das polnische Außenministerium für die Ausbürgerung polnischer Juden in Deutschland ein,

„um so die Bedingungen zur Einziehung ihres Vermögens zu schaffen und die Übertragung der Ölaktien an Polen im Rahmen eines gegenseitigen Vertrages einzuleiten“. (8)

Nun eskalierte die Situation: Am Vormittag des 7. November 1938 schoss in der Deutschen Botschaft in Paris der 17jährige Herschel Seidel Grünspan (Grynszpan), der seine Eltern im deutsch-polnischen Niemandsland vermutete, aus angeblicher Empörung den 29jährigen deutschen Diplomaten Dr. Ernst Eduard vom Rath nieder. Nach den Schüssen von Paris wurden sofort die jüdischen Blätter verboten. Und alle anderen Redaktionen erhielten die Anweisung: Die Nachricht über das Attentat muss die erste Seite voll beherrschen. In eigenen Kommentaren sollte darauf hingewiesen werden, dass das Attentat des Juden die schwersten Folgen für die Juden in Deutschland haben müsse. (9) Die Tat des jungen Juden lieferte den willkommenen Anlass, um vom 9.  auf den 10. November in Deutschland die Synagogen in Flammen aufgehen zu lassen, jüdische Geschäfte zu plündern und die ohnehin fast schon unerträglichen Bedingungen, unter denen die jüdischen Bürger leben mussten, weiter zu verschärfen.

Zwischen 1938 und 2021 sind folgende Parallelen zu erkennen:

Damals wie heute hatte das Böse nur einen Namen – 1938 war es Deutschland, heute ist es Weißrussland. Die polnischen Verstrickungen in der fatalen Entwicklung wurden bisher weitgehend verschwiegen. Keine 10 Monate nach den Schüssen von Paris 1938 befand sich Deutschland im Krieg mit Polen – der Auftakt zum Zweiten Weltkrieg mit seinem unvorstellbaren Leid, dass er über Europa brachte. Heute sind die Kriegstrommeln ebenfalls nicht zu überhören. Wird die Situation an der polnischen Grenze eskalieren und Westeuropa sich in 10 Monaten im Krieg mit Weißrussland befinden? Einem Krieg, der wieder das Potential hat, sich zu einem großen Krieg auszuwachsen und Europa in eine Wüste zu verwandeln?

Seit der NATO-Osterweiterung, spätestens aber seitdem vom Westen forcierten Umsturz in der Ukraine 2014 – in diesem Jahr wurde auch die Langzeitstrategie TRADOC 525-3-1 „Sieg in einer komplexen Welt 2020 - 2040“ mit den Hauptfeinden Russland und China aus der Taufe gehoben – wird es zunehmend deutlich, dass die führenden US-Strategen kein Interesse an einer friedlichen Kooperation mit der russischen Föderation haben.  Vielmehr wird mittels Provokationen versucht, Putin aus der Defensive zu locken, um endlich einen Kriegsgrund zu haben, denn das Ziel der maßgeblichen US-Elite scheint nach wie vor die globale Dominanz zu sein. Die Unterstellung, Lukaschenko würde mit einigen Hundert Migranten, die er angeblich an die EU-Außengrenze schafft (was rein geografisch ein unglaublicher Aufwand wäre), die EU destabilisieren wollen, wirkt angesichts des Millionen-Migrantenstroms nach Deutschland 2015 wenig glaubwürdig. Und warum sollte er eine aggressive Konfrontation mit der EU und damit mit der NATO riskieren und damit den US-Kriegsstrategen eine Steilvorlage liefern?

Quellen und Anmerkungen:

1) Migration über Belarus: Lage an polnischer Grenze spitzt sich zu vom 9.11.2021 unter https://web.de/magazine/politik/fluechtlingskrise-in-europa/migration-belaruslage-polnischer-grenze-spitzt-36327954 2) Ebenda 3) https://web.de/magazine/politik/hunderte-migranten-weissrussland-verschaerfen-situation-grenze-36327048 4) https://www.porta-polonica.de/en/node/779 5) Vgl. Wolfgang Effenberger/Reuven Moskovitz: Deutsche und Juden vor 1939. Höhr-Grenzhausen 2013 6) a) 26. 4. 38, Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden, RGBl 1, S. 414; 1. Verordnung dazu S. 415.

  1. b) 7. 38, Ges. zur Änderung der Gewerbeordnung für das deutsche Reich, RGBl 1, S. 823.
  2. c) 7. 38, 4. VO zum Reichsbürgergesetz, RGB1 1, S. 969 (Verbot des Ärzteberufs).
  3. d) 9. 38, Ges. über die Zulassung zur Patentanwaltschaft, RGBl 1, S. 1150.
  4. e) 9. 38, 5. V0 zum Reichsbürgergesetz, RGB1 1, 5. 1403 (Ausscheiden jüdischer Rechtsanwälte).
  5. f) Mit der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.1941 verfiel das Vermögen jedes Juden, der sich außerhalb der Staatsgrenzen aufhielt - also ausgewandert oder deportiert war – dem Reich.

7) Weiss, Y:  Deutsche und polnische Juden vor dem Holocaust: jüdische Identität zwischen Staatsbürgerschaft und Ethnizität 1933-1940 Berlin 2010, S. 196 8) Ebenda 9) Bareiß 2005, S. 19, Anmerkung 13: Mitschrift der Pressekonferenz des Propagandaministeriums vom 7.11.38. Alle deutschen Zeitungen müssen in größter Form über das Attentat auf den Legationssekretär berichten! ;vgl. Benz 1988 +++Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: Naeblys / shutterstock


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