Ein Meinungsbeitrag von Stephanie Lambertz.
Spätestens seit März 2020 ist nicht mehr zu übersehen, dass sich die Welt rapide verändert. Menschen, die diese Veränderung ablehnen, stellten sich damals die Frage „Was tun?“ Vielen war unmittelbar klar „Diesem Treiben können wir nur etwas entgegensetzen, wenn wir uns zusammen querstellen!“ Mir ist es damals ebenso ergangen. Ich habe mich mit all meiner Energie in den Widerstand eingebracht.
Durch meine Beobachtungen und Erfahrungen im Widerstand bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Widerstand seine beabsichtigte Wirkung so weder heute noch in Zukunft entfalten wird. Plötzlich und unerwartet hatte ich mich in einer für mich unerträglichen Situation des Stillstands wiedergefunden. Vom Wunsch getrieben, doch noch in Wirksamkeit zu kommen, habe ich mich gefragt, woran der Widerstand gescheitert sein könnte. Als Kernursache habe ich das dysfunktionale Miteinander der Menschen identifiziert. Auf dieser Erkenntnis aufbauend habe ich eine Idee entwickelt, wie zuerst Gruppen, dann Gemeinschaften und perspektivisch auch eine Bewegung zu einem tragfähigen Miteinander kommen können. Um es nicht bei einer Idee zu belassen, habe ich nachfolgend mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter einen Selbstversuch gestartet. Seither sammeln wir in dieser Gruppe faszinierende Erfahrungen und Erkenntnisse und feiern Erfolge. Diese treiben uns an, die Anstrengungen aufrechtzuerhalten oder gar noch weiter zu steigern, um immer wieder neue Erfolge feiern zu können.
In diesem Artikel zeichne ich diese Entwicklung nach. Ich wende mich mit diesem Artikel an Menschen, die ähnliche Erfahrungen und Entwicklungen gemacht haben und auf der Suche nach einem Weg sind. Diesen Menschen möchte ich inspirieren. Gerne lade ich diejenigen, die sich von meinen hier vorgestellten Gedanken angesprochen fühlen und darüber mit mir ins Gespräch kommen möchten, zu einem persönlichen Dialog ein.
Bestandsaufnahme
Nach März 2020 sind viele widerständige Menschen aktiv geworden, haben sich in alternativen Medien informiert, sind auf Demonstrationen gegangen, haben zivilen Ungehorsam praktiziert und haben sich mit anderen zusammengeschlossen. In dieser Phase sind viele Gruppen, Gemeinschaften und auch eine Partei entstanden, in denen sich engagierte Menschen zusammengefunden haben. Nach meiner Beobachtung hatten sich die Menschen zusammengetan, um ihre Mitmenschen aufzuwecken, den Widerstand zu organisieren, sich gegenseitig den Rücken zu stärken oder alternative Gemeinschaften aufzubauen.
Wo stehen diese Zusammenschlüsse heute, dreieinhalb Jahre später? Was haben sie erreicht und welche Wirksamkeit haben sie tatsächlich entfaltet?
Nach meiner Kenntnis sind inzwischen alle damals gegründeten Zusammenschlüsse in der harten Wirklichkeit angekommen. Auf der Suche nach dem richtigen Lösungsansatz haben die mir bekannten Zusammenschlüsse eine der folgenden Entwicklungen genommen.
Im einen Fall haben sich die Zusammenschlüsse in innere Konflikte verstrickt. Die Mitglieder ringen miteinander darum, was das richtige Ziel, der richtige Weg oder auch nur der richtige erste Schritt sein könnte. Die Mitglieder blockieren sich gegenseitig oder die Zusammenschlüsse sind auseinandergebrochen. In anderen Fällen replizieren die Zusammenschlüsse im Kleinen jene Strukturen und Lösungsansätze, die im Großen erst zu der Art von Problemen geführt haben, wegen denen sich ihre Mitglieder ursprünglich quergestellt haben. In wieder anderen Fällen versuchen die Mitglieder die Harmonie mit schönen Anlässen und harmlosen Kompromissen aufrechtzuerhalten, allerdings um den Preis, dass die Suche nach einem wirksamen Lösungsansatz aus dem Fokus gerät.
Letzten Endes hat es kein Zusammenschluss geschafft, sich auf einen Lösungsansatz zu verständigen – von der konzertierten und entschlossenen Umsetzung eines Lösungsansatzes ganz zu schweigen. Das einende Motiv, die Veränderung in der Gesellschaft abzulehnen und sich querzustellen, reicht offenkundig nicht aus, um sich auf einen Lösungsansatz verständigen zu können.
Die Menschen im Widerstand nutzen nach meiner Beobachtung verschiedene Bewältigungsstrategien, um mit dieser verfahrenen Situation klarzukommen. Die einen halten sich mit einem „Das System wankt schon!“ oder „Wir werden immer mehr!“ mental über Wasser und klammern sich mangels anderer Handlungsalternativen weiter an Handlungsansätze, die in der Vergangenheit schon vielfach gescheitert sind. Andere geben den äußeren Widerstand auf und gehen dafür vermehrt in den inneren Widerstand oder sie entkoppelten sich ganz vom Außen und suchen ihr Glück in einem ganz nach innen gekehrten Leben. Wieder andere wenden sich ab und versuchen, so viel wie möglich vom ihnen noch zustehenden Lebensglück zu genießen.
Die Veränderungen gegen die wir seit dreieinhalb Jahren aufbegehren, nehmen derweil weiter ihren Lauf. Gemessen an ihren selbstgesteckten Zielen, sind die Zusammenschlüsse trotz immensen Energieeinsatzes gescheitert.
Lösungsansatz
Im Lichte dieser Erkenntnisse ist in mir die Einsicht gereift, dass wir den Lauf der Dinge nicht mit einem „Mehr vom Gleichen“ werden ändern können. Dies ist umso tragischer, als wir uns im Widerstand einig sind, dass es wirklich brennt!
Ich habe mich lange mit der Frage beschäftigt, warum der Widerstand trotz des enormen Handlungsdrucks und der anfänglichen Euphorie keine nennenswerte Wirkung entfaltet hat. Nach meiner Einschätzung waren die Zusammenschlüsse wegen des nicht gelingenden Miteinanders dysfunktional. Die Mitglieder stoßen früher oder später auf „Schmerzpunkte im Miteinander“ und finden keinen konstruktiven Umgang damit.
Um Zusammenschlüsse langfristig funktional zu halten, brauchen wir ein grundsätzlich anderes Miteinander. Nach meiner Einschätzung müssen wir lernen, die allfälligen „Schmerzpunkte im Miteinander“ willkommen zu heißen und zum Wachstum zu nutzen, statt uns daran aufzureiben, sie zu umschiffen oder durch eine hierarchische Machtverteilung aufzulösen. Hierzu brauchen wir offenkundig andere und neuartige Handlungskompetenzen als die, die wir aufgrund unserer bestehenden Sozialisierung mitbringen.
Bei der Suche nach der Antwort auf die Frage, wie wir diese unbekannten neuartigen Kompetenzen erwerben können, leitet mich die Vorstellung, dass wir uns als Menschen bzw. als Gesellschaft entlang von Entwicklungsebenen entfalten. Dabei geht die Entwicklung von Bewusstsein und System Hand in Hand. Das Bewusstsein erzeugt das System und das System prägt das Bewusstsein. Um den Weg in ein unbekanntes neuartiges System zu erkunden und zu ebnen und dieses System schließlich mit Leben zu füllen, brauchen wir Menschen mit einem dazu passenden neuartigen Bewusstsein. Einem Bewusstsein, das aber nur Menschen mitbringen, die in diesem neuartigen System sozialisiert wurden.
Um dieses klassische „Henne-Ei“-Problem zu lösen, stelle ich mir ein inkrementelles Wechselspiel zwischen dem Hieven des Bewusstseins und dem Hieven des Systems vor. Wir sollten diese Entwicklung beim Bewusstsein beginnen, weil wir nur dort unmittelbar ins Handeln und Erleben kommen können und weil wir mit dem alten Bewusstsein kaum mehr als eine neue Variante des alten Systems aufbauen können.
Meine Vorstellung ist, dass wir die heute noch unbekannte neue Bewusstseinsebene wie ich sie verstehe nur durch eine auf Gemeinschaftsfähigkeit ausgerichtete Persönlichkeitsentwicklung erreichen können. Eine Persönlichkeitsentwicklung, die durch Selbstreflexion und Rückmeldungen aus vertrauensvollen Zwiegesprächen angetrieben wird, ist hierfür zwar eine notwendige Voraussetzung, reicht aber allein nicht aus. Damit wir die nächste Bewusstseinsebene erreichen können, sind zusätzliche Treiber notwendig, die sich erst aus den vielschichtigen Interaktionsmustern in einer Gemeinschaft ergeben.
Umsetzungskonzept
An klugen Analysen und euphorischen Vorstellungen, wie die Welt zu retten sei, mangelt es im Widerstand wahrlich nicht. Ebenso nicht an frommen Wünschen und dringenden Appellen, diese Vorstellungen umzusetzen. Ich war nun also auch zu (m)einer Erkenntnis gelangt, wo das Kernproblem liegt und wie die Welt zu retten wäre.
Zu dieser Zeit habe ich viel mit mir gerungen. Sollte ich es bei der Bekanntmachung meiner Überlegungen belassen und deren Umsetzung dem geneigten Publikum überlassen? In mir nagte der Selbstzweifel. Woher nahm ich die Gewissheit, dass meine Idee die „richtige“ ist? Wie kühn ist das eigentlich, bei den vielen konkurrierenden Ideen hinter denen immer ein überzeugter und anerkannter Experte steht?
Ich kam zu dem Schluss, dass ich im Selbstversuch herausfinden wollte, wie tragfähig meine weitreichende und unorthodoxe Idee wirklich ist. Ich wollte empirisch prüfen, ob meine Idee für die Praxis taugt und ob wenigstens ich selbst den Herausforderungen gewachsen wäre, die es bei der Umsetzung der Idee zu bewältigen gelte. So viel war ich mir und meiner Idee schuldig. Ich brannte darauf, wieder ins Handeln zu kommen.
Ich wollte eine Gruppe aufbauen, deren Zweck es ist, ihren Mitgliedern den Erwerb jener Kompetenzen zu ermöglichen, die für die Gründung bzw. das Leben in einer Gemeinschaft notwendig sind – eine neuartige Gemeinschaft mit dem Potential, der Keim für eine neuartige Gesellschaft und ein neuartiges System zu werden.
Die Gruppe sollte auf gleichberechtigter Selbstorganisation basieren und ohne Macht über andere auskommen. Sie sollte nach alternativen Lösungsansätzen suchen, mit diesen experimentieren und auf diesem Weg die alte Sozialisierung Stück für Stück überwinden. Sie sollte sich Themen suchen und bearbeiten, mit denen sie sich dem selbstgesteckten Ziel nähert. Sobald sich bei der Bearbeitung von Themen die ersten „Schmerzpunkte im Miteinander“ einstellen, sollten diese mit Vorrang bearbeitet und zur Weiterentwicklung genutzt werden. Die Mitglieder sollten dabei eingefahrene Verhaltensmuster im Miteinander erkennen, hinterfragen und gegebenenfalls überprägen.
Die Gruppe sollte in einen dynamisch sich selbst verstärkenden Arbeitsfluss kommen, der durch überzeugende Erfolgserlebnisse bei einem angemessenen Energieeinsatz der Gruppenmitglieder angetrieben wird.
In Vorbereitung auf die Suche nach möglichen Mitgliedern habe ich basierend auf diesen Überlegungen ein vorläufiges Selbstverständnis für die zu gründende Gruppe formuliert und die Gruppe unter das Motto „Wachstum in Autonomie und Verbindung“ gestellt. Das Selbstverständnis beinhaltet Zweck und Ziel der Gruppe sowie das notwendige Engagement der Mitglieder.
Die Suche selbst habe ich im Dezember 2022 gestartet. Ich habe nach Gleichgesinnten Ausschau gehalten, die mit dem vorläufigen Motto und Selbstverständnis in Resonanz gehen, weil sie ungefähr am gleichen Punkt stehen und ein Stück weit des Weges mit mir gemeinsam gehen wollen.
Praxisbericht
Die Gruppe besteht seit März 2023. Wir treffen uns seither regelmäßig im virtuellen Raum. Nachdem sich die Gruppe formiert hatte, standen wir vor der Herausforderung, ein gemeinsames Selbstverständnis zu entwickeln, in Verbindung zu gehen und in einen Arbeitsfluss zu kommen.
Herstellung der Arbeitsfähigkeit der Gruppe
In der Findungsphase haben wir zunächst die drängendsten Fragen der Zusammenarbeit thematisiert. Wir haben uns auf technische Werkzeuge, methodische Ansätze und die Interpretation der für uns wesentlichen Schlüsselbegriffe verständigt. Zu Anfang haben wir uns einmal die Woche zu einem Regeltermin getroffen und dort die Bearbeitung und Nachverfolgung unsere Themen organisiert. Unter der Woche wurde in unterschiedlicher Zusammensetzung an den verschiedenen offenen Themen gearbeitet. Mittlerweile haben wir eine vielfältigere, flexiblere und deutlich funktionalere Mischung aus Regelterminen und anlassbezogenen Formaten.
Nachdem wir die Findungsphase etwa im Mai 2023 abgeschlossen hatten, sind wir durch die gemeinsame Arbeit an den ersten Themen erwartungsgemäß auf die ersten „Schmerzpunkte im Miteinander“ gestoßen. Wir haben einige Befindlichkeiten und Störungen erlebt, angesprochen, haben damit gearbeitet und sind so immer mehr in Verbindung gekommen. Im Juli 2023 war es endlich so weit. Die Gruppendynamik hatte gezündet, die Anstrengungen wurden zunehmend mit Erfolgserlebnissen belohnt. Wir wurden produktiv und haben begonnen, nach und nach Themen abzuarbeiten, die sich zwischenzeitlich auf unserer Liste angesammelt hatten. Zurzeit befassen wir uns damit unser Selbstverständnis und unsere bisherige „Bewährte Praxis“ festzuhalten – für uns und um sie mit anderen teilen zu können.
Demonstration der Funktionsweise der Gruppe an einem ausgesuchten Praxisbeispiel
Kürzlich haben wir die Bearbeitung des Themas „Mitgliederaufnahme“ abgeschlossen. Wir haben im Verlauf mehrerer Termine einen Konsens über unser geplantes Vorgehen erzielt. Derzeit befindet sich dieses Vorgehen in der praktischen Erprobung. Nachfolgend schildere ich an diesem Beispiel wie unsere Gruppe funktioniert.
Anfänglich haben wir uns bei unseren Überlegungen zur Mitgliederaufnahme von der Sorge treiben lassen, dass der gerade erst erreichte gute Arbeitsfluss unserer Gruppe durch ein nicht zu uns passendes Neumitglied dauerhaft gestört werden könnte. Wir sind auf einen Lösungsansatz zugesteuert, der stark an ein klassisches Bewerbungsverfahren erinnert. Wir wollten den Interessenten auf Herz und Nieren prüfen. Am Ende sollte eine einstimmige Entscheidung stehen, den Interessenten aufzunehmen. Getreu dem Motto: „Lieber kein Neumitglied als das falsche.“
Wir hatten uns fast schon auf einen Lösungsansatz geeinigt als einer von uns spontan die Frage in den Raum geworfen hat, ob wir mit diesem Vorgehen nicht eine arge Asymmetrie zwischen uns und dem potentiellen Neumitglied herstellen würden, mit entsprechend ungünstigen Vorzeichen für dessen späteren Start in die Gruppe. Was würde es mit einem Interessenten machen, wenn wir ihm von vornherein mit Skepsis und Macht begegnen und ihm mit einer willkürlichen Bewertung seiner persönlichen Eignung drohen?
Was für ein Perspektivwechsel! Ein Gedanke jagte den anderen. Was wäre das Wahrscheinlichste und was das vernünftigerweise anzunehmende Schlimmste, was passieren könnte? Wie begründet war unsere Sorge, dass das Neumitglied uns auf lange Sicht übermäßig Energie rauben könnte? Wollten wir nicht an die „Schmerzpunkte im Miteinander“ gehen? Läge es nicht in der Verantwortung eines jeden, gut für sich und die Gruppe zu sorgen und warum sollten wir nicht dazu in der Lage sein?
Das hat bei uns allen zu einem Aha-Erlebnis geführt. Wir haben nochmal komplett neu überlegt. Wir haben unsere anfängliche Sorge fallengelassen und dafür darauf geachtet, dass zwischen uns Altmitgliedern und dem potentiellen Neumitglied kein künstliches Machtgefälle aufgebaut wird.
Einer von uns hat daraufhin erkannt, dass unser eigentliches Problem nicht die Mitgliederaufnahme, sondern die ungeklärte Mitgliederaussonderung ist. Bei uns reifte die Erkenntnis, dass wir als Freiwilligengruppe gar kein spezielles Vorgehen zur Mitgliederaussonderung brauchen. In einer Freiwilligengruppe wie der unsrigen kann jeder die Gruppe jederzeit verlassen und niemand kann von der Gruppe zu irgendetwas gezwungen werden. Da das Teilen unserer Arbeitsergebnisse im Sinne der Kreativallmende (Creative Commons, Open Source etc.) und die bereitwillige Unterstützung von Schwester- und Tochtergruppen in unserem Selbstverständnis verankert sind, kann jeder von uns jederzeit eine neue Gruppe initiieren und in sie hinüberwechseln. Wenn sich dieser Gruppe andere Altmitglieder anschließen, wäre sie schnell wieder auf dem Niveau der Altgruppe.
Wir haben uns am Ende entschieden, dem Interessenten die Entscheidung zu überlassen, ob er mit uns eine neue Gruppe bilden möchte. Einzige Voraussetzung ist, dass er das Selbstverständnis der Altgruppe verstanden hat und erklärt, dass er es mitträgt. Im Fall einer positiven Entscheidung würden wir die Altgruppe schließen und in der neuen Konstellation nochmal von vorne anfangen. Beim Neustart würden wir auf die Arbeitsergebnisse der Altgruppe zurückgreifen können, aber in der neuen Besetzung gleichberechtigt nach einem neuen Konsens suchen, wie wir uns organisieren und was wir fortan an Themen bearbeiten wollen.
Der mit diesem Vorgehen verbundene Neustart hat den zusätzlichen Charme, dass wir dadurch Gelegenheit erhalten, unsere Arbeitsergebnisse und Kompetenzen nochmal über den ganzen Gruppenformierungsprozess zu erproben und so perspektivisch die Voraussetzungen für einen Schnellstart neuer Gruppen zu schaffen.
Ableitung neuer Praktiken für unsere „Bewährte Praxis“
Bei der Befassung mit der Frage, wie wir die Mitgliederaufnahme gestalten wollen, haben wir viele wertvolle Erfahrungen gemacht. Wir haben einige schöne Stücke für unsere „Bewährte Praxis“ und unsere „Lagerfeuergeschichten“ eingesammelt und mehr als eine Gelegenheit gefunden, an unseren Persönlichkeiten und unserer Handlungskompetenz zu arbeiten.
Bei der Suche nach einem optimalen Gruppenkonsens orientieren wir uns mittlerweile an der Methode des „Systemischen Konsensierens“. Diese Methode hilft uns, den Lösungsraum umfassend zu sondieren, unsere unterschiedlichen Kompetenzen und Perspektiven zur Geltung zu bringen, unsere Kreativität und Kokreativtät zu wecken, um optimal an unsere Bedürfnisse angepasste – häufig auch völlig unorthodoxe – Lösungsansätze zu finden und uns im Konsens für den am besten angepassten Lösungsansatz zu entscheiden.
Wir haben im Konsensierungsverfahren noch einen zusätzlichen Zwischenschritt eingebaut, bei dem wir uns fragen, wo in den verschiedenen Lösungsansätzen noch die alte Sozialisierung oder dysfunktionale Verhaltensmuster verborgen sind. Dabei suchen wir nach offenen oder verdeckten Anteilen direktiver Führung, von Hierarchien oder Regeln, nach ungerechtfertigt angeeignetem Eigentum oder nach Widersprüchen zum Motto und Selbstverständnis oder zur „Bewährten Praxis“ unserer Gruppe.
Persönlichkeitsentwicklung und Kompetenzaufbau in Bezug auf ein neuartiges Miteinander
Wir erwarten „Schmerzpunkte im Miteinander“ unabhängig von aller „Bewährten Praxis“ und heißen sie als Lernchancen willkommen. Bei der inhaltlichen Arbeit am Thema „Mitgliederaufnahme“ haben sich erwartungsgemäß Situationen ergeben, in denen sich ein Mitglied wegen einer Störung außerstande sah, sich weiter auf die Arbeitsebene zu konzentrieren. Wir haben uns darauf verständigt, Störungen mit Vorrang zu bearbeiten. Das heißt, wir kehren erst dann wieder zur inhaltlichen Arbeit zurück, wenn sich wieder alle dort einbringen können.
Später haben wir herausgefunden, dass sich bei uns hin und wieder auch Befindlichkeiten einstellen, die niederschwelliger als Störungen sind. Mittlerweile sind wir soweit, dass wir auch Selbst- und Fremdbeobachtung auffälliger wiederkehrender Verhaltensmuster thematisieren können.
Wir bearbeiten inzwischen alles, das die inhaltliche Arbeit nicht akut behindert in einem besonderen Format mit einem eigenen Regeltermin. In diesem Termin reflektieren wir ganz allgemein unsere Zusammenarbeit, machen uns Gedanken um neue Praktiken und pflegen unsere „Bewährte Praxis“. In diesem nochmal besonders geschützten Raum können wir frei und entspannt über unsere Störungen, Befindlichkeiten und Beobachtungen reden. Wir haben vereinbart, dass wir achtsam mit dem Vertrauen und der Zuwendung umgehen wollen, die wir uns in der Gruppe entgegenbringen. Wir hören einander aufmerksam zu, versuchen den anderen zu verstehen und das Verstandene wohlwollend wiederzugeben. Wir verzichten auf unerbetene Bewertungen und Ratschläge. Wir haben uns gegenseitig versprochen, uns zunächst intensiv zu prüfen, welchen Anteil wir selbst haben, ob es sich bei einer mutmaßlichen Fremdbeobachtung vielleicht um eine Projektion oder eine andere Form des Psychologisierens handelt. Jeder von uns hat den übrigen Mitgliedern eine individuelle Erlaubnis erteilt, wann und wie er auf fremdwahrgenommene auffällige Verhaltensweisen angesprochen werden möchte.
Es ist Teil unseres Selbstverständnisses, dass jeder von uns die Verantwortung für sich und sein Handeln, Denken und Fühlen übernimmt. Entsprechend geht es in diesem geschützten Raum darum, sich mit seinen Gefühlen zu zeigen und mithilfe der Gruppe seine eigenen Gefühle und Beweggründe besser zu verstehen. Es geht explizit nicht darum, die übrigen Gruppenmitglieder zu einer Änderung ihres Verhaltens zu animieren. Wobei es gelegentlich vorkommt, dass andere Gruppenmitglieder durch die entspannte Befassung mit ihren eigenen Gefühlen und Beweggründen in Kontakt kommen und ihr Verhalten aus eigenem Antrieb überdenken.
Resümee
Unsere kleine virtuelle Gruppe besteht nun seit gut einem halben Jahr. Die Mitglieder setzen zurzeit etwa zehn Prozent der ihnen zur Verfügung stehenden Zeit ein, um sich für eine Gründung oder eine Mitgliedschaft in einer neuartigen – nicht notwendigerweise der gleichen – Gemeinschaft fit zu machen.
Wir haben einen guten Umgang mit den allfälligen „Schmerzpunkten im Miteinander“ gefunden. Auf diese Weise schaffen wir es bisher, die Handlungsfähigkeit auf der Ebene der inhaltlichen Arbeit immer wieder herzustellen und unsere Gruppe dadurch funktional zu halten. Wir arbeiten uns langsam aus dem alten System und unserer alten Sozialisierung und Konditionierung heraus. Wie erwartet und erhofft, entwickeln wir neuartige Praktiken und Kompetenzen und machen uns so fit für die Gründung und das Leben in einer neuartigen Gemeinschaft.
Dabei gelangen wir immer öfter in einen Zustand des „Freiflusses“ (Flow) und erleben immer wieder „Magische Momente“, in denen wir spüren, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Umso mehr wir an Fahrt gewinnen, umso mehr Lebenslust erfahren wir. Die Aussicht auf neue Erlebnisse der Lebenslust treibt uns an und lässt uns die Unlust überwinden, die mit der mental anstrengenden Arbeit an den „Schmerzpunkten im Miteinander“ selbstverständlich auch verbunden ist.
Eingebettet in ein neuartiges wohlwollendes Miteinander wachsen wir als Menschen und als Gruppe. Dabei fühlen wir uns gleichzeitig autonom und verbunden. Der achtsame und offene Umgang miteinander hat das Vertrauen und die Vertrautheit zwischen den Gruppenmitgliedern massiv anwachsen lassen.
Wir wähnen uns auf dem richtigen Weg und in einem Fahrwasser, das es uns ermöglicht, unsere Energie endlich wirkungsvoll in eine gerichtete Vorwärtsbewegung umzusetzen. Wir sind bereits in kurzer Zeit so weit gekommen, dass die Welt von dem Punkt aus, an dem wir heute stehen schon deutlich anders aussieht. Wir sehen den vor uns liegenden Weg und besonders die nächsten Schritte schon viel klarer als noch zu Beginn.
Das, was vor dreieinhalb Jahren in Deutschland passiert ist, hat mich in eine tiefe Krise gestürzt. Ausgelöst durch diese Krise habe ich meine Lebenssituation vor etwa zwei Jahren grundlegend verändert. Ich habe etwa ein Jahr gebraucht, um mir eine neue Existenz aufzubauen und mich wieder zu stabilisieren. Durch diesen Wechsel habe ich meine Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit wiedergewonnen und konnte mich dann auch wieder der gesellschaftlichen Perspektive öffnen. Erst dadurch stand mir all das offen, was ich in diesem Artikel beschrieben habe.
Natürlich weiß ich nicht, ob die Gruppe weiter wächst, auf welche Hindernisse wir noch stoßen werden, wohin uns der Weg noch führen wird, ob wir überhaupt irgendwo ankommen und wie lange ich selbst noch mithalten und dabei sein kann. Was ich aber sagen kann, ist, dass ich um jeden Tag froh bin, den ich mit dieser Gruppe schon gegangen bin und noch weitergehen kann, um den Raum der Möglichkeiten voller Neugier immer weiter auszuloten.
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Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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