„Die Wertegemeinschaft und der Rechtsstaat zerfallen, weil sie durch Ideologien korrumpiert wurden“, schreibt Alexander Christ im neuen Rubikon-Bestseller — und zeigt auf, wie Recht und Gerechtigkeit doch noch zu retten sind.
Hinweis zum Beitrag: Der vorliegende Text erschien zuerst im „Rubikon – Magazin für die kritische Masse“, in dessen Beirat unter anderem Daniele Ganser und Hans-Joachim Maaz aktiv sind. Da die Veröffentlichung unter freier Lizenz (Creative Commons) erfolgte, übernimmt apolut diesen Text in der Zweitverwertung und weist explizit darauf hin, dass auch der Rubikon auf Spenden angewiesen ist und Unterstützung braucht. Wir brauchen viele alternative Medien!
Ein Standpunkt von Roland Rottenfußer.
Die juristische Sphäre ist beileibe nicht die einzige Instanz, die in der Coronakrise versagt hat. Hätte aber der Damm der Justiz gehalten, so hätten die Fehlleistungen aller anderen Akteure kompensiert beziehungsweise rückgängig gemacht werden können. Gerichte, speziell das Bundesverfassungsgericht, hätten die voreilig und grundrechtswidrig verhängten Maßnahmen der Politik delegitimieren und — wenn auch leider mit Verzögerung — außer Kraft setzen können. Haben sie aber nicht. Eigentlich ist es die Aufgabe des Rechtsstaats, die Politik zu kontrollieren. Wer aber kontrolliert die Kontrolleure? Die Deutschen — wie auch die Bürger anderer, zuvor leidlich demokratischer Staaten — haben in den Jahren von 2020 bis 2022 auf schockierende Weise erfahren müssen, wie ausgeliefert sie dem Unrecht sein können — und wie wenig Schutz Gerichte selbst vor offensichtlichsten Verstößen gegen die Werte des Grundgesetzes mitunter bieten. Der erfahrene Anwalt und Pressesprecher der „Anwälte für Aufklärung“ Alexander Christ dokumentiert in seinem neuen Buch „Corona-Staat: Wo Recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht“, das am 27. Juni im Rubikon-Verlag erscheint, die Geschichte eines historischen Staats- und Moralversagens. Neben aufrüttelnden und aufklärerischen Anekdoten aus dem Corona-Unrechtsregime liefert er dabei vor allem kluge und feingeistige philosophische Betrachtungen über das Spannungsfeld von Recht und Gerechtigkeit, Macht und Gewissen und zeigt auf, wie der Rechtsstaat doch noch zu retten ist ― durch unser aller Menschlichkeit und Moral, unser tägliches Handeln und Tun.
Die vergangenen Jahre haben — im krassen Widerspruch zum Ideal der Gewaltenteilung — eine Entwicklung eingeleitet, die man als „Gewaltenzusammenführung“ bezeichnen kann. Alle Institutionen in Deutschland zogen an einem Strang: Bundesregierung und Landesregierungen, der Großteil der Opposition, die Parlamente, die Gerichte, das Bundesverfassungsgericht, Polizei und Bürokratie, der Ethikrat, die großen Medien ... Besagter Strang schnürte der Freiheit den Hals zu, nahm uns die Luft zum Atmen, zog uns alle am Gängelband durch die Arena der Geschichte.
Selten zuvor trat die Bedeutung des Halbsatzes „Wenn Recht zu Unrecht wird …“ so eindeutig zutage wie zu Corona-Zeiten. Und nur selten wurde die Pflicht, dagegen Widerstand zu leisten, von so wenigen als solche erkannt. Genau hier setzt Alexander Christ an. Der Anwalt deutet das Wort „Pflicht“ nicht, wie der Staatsphilosoph Richard David Precht, in erster Linie im Sinne eines Stillhalteabkommens zwischen Bürgern und Staat. Vielmehr sieht er sich quasi von Berufs wegen in der Pflicht, Recht und Gerechtigkeit in diesem Land zu schützen.
„Als Rechtsanwalt auf dem festen Boden des demokratischen Rechtsstaates stehend, schäme ich mich für die deutsche Politik, für die Auswüchse der Exekutive und am meisten für meine eigene Profession, für die Rechtsfindung und Rechtsprechung. Corona hat ans Tageslicht gebracht, wie fragil unser Rechtsstaat ist. Ein Virus genügt, um bei Politikern totalitäre Allmachtsfantasien freizusetzen. Blinder Gehorsam führt zu unreflektierter Umsetzung fragwürdiger Regeln. Und Angst vor Ansteckung reicht aus, um Richter vergessen zu lassen, dass ihre eigentliche Aufgabe im gewaltengeteilten Staat in einer beschränkenden Kontrolle der Staatsmacht besteht.“
„Lassen wir es nicht banal enden!“
Christ konstatiert eine kollektive Angstpsychose von historisch wohl einzigartigem Ausmaß. Es bräuchte eine gründliche Aufarbeitung des Geschehenen: psychologisch, politisch und — dazu trägt Alexander Christ mit seinem Buch Wesentliches bei — auch juristisch.
„Dieser Aufarbeitung widmen sich bereits einige Mitstreiter, auch ich. An dieser Stelle sei jeder Leser aufgerufen, daran mitzuarbeiten. Lassen wir gemeinsam nicht zu, dass es banal endet und die Verursacher ungenannt davonkommen. Nicht Verurteilung ist das primäre Ziel, sondern Versöhnung, so schwer dies auch einigen fallen wird, die persönlich beträchtliche Schäden durch die Freiheitseinschränkungen erlitten haben.“
Es ist ehrenwert, dass Christ die Möglichkeit der Versöhnung gleich von Anfang an mit ins Spiel bringt. Denn was er auf den folgenden Seiten vor uns ausbreitet, macht erst einmal noch wütender. Denn die schiere Fülle des juristischen Unrechts, das Ausmaß an Kleingeist und Menschenschinderei, die die beiden Corona-Jahre hervorgebracht haben, „erschlägt“ den Leser fast. Licht in die Dunkelheit bringt hier vor allem die Integrität das Autors, denn es tut gut, auf diesem Höllentrip jemanden an seiner Seite zu haben, der die Dinge genauso sieht wie man selbst und der Unrecht klar benennt — mag es auch durch geschriebenes Recht sanktioniert sein.
Mögen Bücher über juristische Fragen häufig spröde und langweilig sein — Alexander Christ vermeidet diese Falle von Anfang an, indem er sich als Mensch für die Leser erkennbar macht. Er analysiert den „Fall Corona“ nicht wie ein Unbeteiligter, sondern als jemand, der diese Phase der Geschichte selbst durchlebt, durchlitten hat — als ein „Vulnerabler“. Ein ungeheuerlicher kultureller Bruch
„Eine schier unendliche Zeitspanne der Dunkelheit und der inneren Düsternis liegt hinter mir — und eine noch unendlichere wohl vor mir.“
Christ erzählt die Geschichte der Coronakrise bis Februar 2022 noch einmal — aus seiner persönlichen Perspektive. Eine nützliche Wiederholung des „Stoffes“, die für die Lesenden mit Sicherheit einen großen Wiedererkennungswert haben wird. Dabei zeigt der Autor, neben der Authentizität des selbst betroffenen Menschen, zudem die Fähigkeit zur Analyse und zur emotional gefärbten Verallgemeinerung. Dabei kommt auch die Medienkritik nicht zu kurz.
„Das, was sich uns zeigt, ist häufig bewusst manipuliert, bestenfalls ein Ausschnitt der Wirklichkeit, keinesfalls jedoch etwas, dem man uneingeschränkten Glauben schenken sollte. Nach einem systematischen Training unserer Praxis der Wirklichkeitsbetrachtung durch ‚die Gesellschaft‘ und in sogenannten sozialen Medien haben die Menschen in den letzten Jahren nach meinem Eindruck weitgehend verlernt, zwischen dem, was ein Bild zeigt, und der Botschaft, die es transportiert, transportieren soll, zu unterscheiden.“
Alexander Christ deutet die Tatsache, dass die Mehrheitsgesellschaft das Geschehen widerstandslos hinnahm, als Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit. Die Sinne für Freiheit und Würde scheinen bei vielen abgestumpft.
„Für mich stellen sich all diese Phänomene wie ein großer Kulturverlust dar, mir erscheint das, was uns in den vergangenen 24 Monaten begegnet ist, wie ein ungeheuerlicher kultureller Bruch, ein zivilisatorisches Desaster.“
Er bleibt aber nicht bei der Politiker- und Richterschelte stehen, sondern spielt den Ball gleichsam zurück ins Feld der Leser: „Mein Thema in diesem Buch ist die Frage, wie erkennen wir, was Recht ist und was nicht? Wie erkenne konkret ich selbst, ob das, was ich denke, richtig ist, oder ob ich nicht vielleicht doch falschliege? Und welche Handlungen leiten sich daraus ab?“ Kapitulationserklärung der juristischen Sphäre
Niemand muss die Lektüre von „Corona-Staat“ scheuen, aus Sorge, der Stoff könne zu „trocken“ geraten sein, bloße Paragrafenreiterei. Vielmehr findet er eine Reihe spannender „Justizdramen“ vor, die leider vor allem eines gemeinsam haben: Sie haben kein Happy End. Recht und Gerechtigkeit erscheinen in diesem Buch wie zwei Welten, die einander nur selten und eher zufällig begegnen. Das Justizwesen erscheint im Spiegel von Alexander Christs Analyse wie eine Domäne der Unrechtspflege. Allenfalls lenkt die Justiz das Unrecht in geordnete, intellektuell nachvollziehbare Bahnen.
Der dem Rechtssystem Ausgelieferte erfährt keine Gerechtigkeit, ihm wird lediglich mit hochtrabenden Worten beschieden, warum ihm diese vorenthalten wird.
„Die sogenannte Coronakrise, in der wir uns nach wie vor befinden und die uns nach meiner Einschätzung noch sehr, sehr lange begleiten wird, hat glasklar ans Tageslicht gebracht, dass es in einer Bevölkerung wie der deutschen offenbar kein Einvernehmen mehr gibt, was Recht und was Unrecht sei. (…) Als Angehöriger der Rechtspflege, der ich als Rechtsanwalt nun einmal in formaler Hinsicht bin, kann ich nicht umhin festzustellen, dass im Verlauf von zwei Jahren das Recht systematisch zerstört worden ist.“
Man sieht: In Alexander Christ finden die Leser keinen neutralen Richter vor, vielmehr erleben sie ihn wie einen Anwalt, der leidenschaftlich und durchaus parteiisch für ihre Belange eintritt. Die Sphäre des Rechts hat in den Corona-Jahren ihre eigene Kapitulationserklärung unterschrieben. Kapituliert hat sie zweifach: vor der Anmaßung der Macht im Zeitalter ihrer ungesunden Konzentration und vor der Wissenschaft, deren unhinterfragte Autorität den Juristen dazu bringen konnte, seinem eigenen Rechtsempfinden nicht mehr zu trauen. Macht und „Wahrheit“ bildeten ein gefährliches Gespann, unter dessen Hufen die Freiheit zertreten wurde.
Das Ende der Debatte
„Wir leben in einer Welt der Bezugnahmen, in der der Idealfall dessen, ‚was recht und billig ist‘, schon längst keinen Wert mehr hat, Bezugnahmen auf angebliche ‚Erkenntnisse der Wissenschaft‘, Daten des Robert Koch-Instituts (RKI ), Meldedaten aus den Intensivstationen der Krankenhäuser, die die DIVI, die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, stümperhaft zusammenträgt und geschönt veröffentlicht, Bezugnahmen auf angebliche Regierungsexperten, die genau deshalb so genannt werden dürfen, weil sie das bestätigen, was die Regierung sagt.“
Daher kann man auch von einer Selbstabschaffung des Rechts mit Blick auf letztlich regierungskonforme „Experten“ reden. Letztlich bemäntelt diese Haltung — „Wie soll ich denn das wissen? Ich bin ja kein Virologe?“ — nur die grassierende Feigheit vor den Feinden der Demokratie und der Grundrechte.
„Wir leben aber nicht mehr in einer Welt des Diskurses, des wissenschaftlichen Streitgesprächs, der Auseinandersetzung um die vernünftigere Position, nicht mehr also in einer Welt der Debatte, kurz: der Suche nach dem besten Weg. Die ‚Corona-Situation‘ hat endgültig beendet, was uns zivilisatorisch wert und teuer war und was man als vernunftgesteuerten Erkenntnisprozess bezeichnen durfte. Fortan scheint nur noch gelten zu dürfen, was dem ‚Regierungsnarrativ‘, der Staatsraison, entspricht. Was wir aktuell erleben, ist nicht mehr und nicht weniger als das Ende einer kulturellen Tradition.“
Die neue Duckmäuser-Kultur
Alexander Christs Buch ist auch ein Appell an die eigene Berufsgruppe, ihre eigene Verantwortung wahrzunehmen, die größer ist als die der meisten anderen Professionen. Trennen sich Rechtspflege und Recht in derselben Weise, wie es während der Coronakrise mit dem Ethikrat und der Ethik geschah, so befördert dies bei den Bürgern Demokratiemüdigkeit und Zynismus. Dies betrifft gerade auch jene Menschen, die zuvor das Rückgrat eines freiheitlichen Rechtsstaats gebildet haben: Menschen also, die unsere durch das Grundgesetz geschützte Ordnung eigentlich bejahen und besser als die meisten anderen Bürger verstanden haben.
Der Staat hat Männer und Frauen beschimpft und ausgegrenzt, die man bei fairer Betrachtung zu den besten des Landes zählen müsste — und dies durchaus aus der Perspektive der vom Staat selbst offiziell propagierten Werte. Stattdessen hat er eine Duckmäuser-Kultur der demokratisch Lauen gefördert, derer also, denen es im Grunde nicht so wichtig ist, ob sie unter liberal-pluralistischen oder unter autoritären und totalitären Bedingungen leben müssen.
Hier stellt sich aber die Frage: Wenn das geschriebene Recht so oft auf faktisches Unrecht hinausläuft — wie erkennt man wirkliche Gerechtigkeit? Und wer darf sich anmaßen, über die Richter moralisch zu richten?
„Was genau ist gerecht? Was darf als ‚recht gehandelt‘ bezeichnet werden? Worin zeigt sich Unrecht? Ich möchte versuchen, unsere Sinne dafür zu schärfen, inwiefern unser gegenwärtiges Leben und dessen Zukunft möglicherweise gar nicht von der eigentlichen Corona-Problematik abhängen, nicht von Fragen wie: ‚Werde ich eine COVID-19-Infektion überleben?‘, ‚Werden wir uns alle anstecken?‘ oder ‚Werden wir alle sterben?‘
Im Corona-Brennglas zeigt sich vielmehr das Menschheitsthema von Recht und Gerechtigkeit, das mit Fragen wie den folgenden verbunden ist: ‚Wie werden wir in der Zukunft als Gemeinschaft leben?‘, ‚Was verhindert, dass Recht in Unrecht umschlägt?‘, ‚Was weist im Notfall die Macht der Regierenden in Schranken, wenn diese Recht in Unrecht verwandeln?“ Die Pflicht zum Ungehorsam
Man sieht also: Für einen Rechtsanwalt denkt Christ erstaunlich wenig „legalistisch“. Er zitiert Henry David Thoreaus Schrift „Über die Pflicht vom Ungehorsam gegen den Staat“ mit den Worten: „Ungehorsam ist die wahre Grundlage der Freiheit. Die Gehorsamen sind Sklaven.“ Das ist bemerkenswert.
Alexander Christ spricht von einem Spannungsverhältnis zwischen geschriebenem Recht und dem, was der Einzelne als gerecht oder ethisch geboten betrachtet. Die für persönliche Rechtsabwägungen zuständige Instanz wird auch als das Gewissen bezeichnet. Tatsächlich fordert Christ keine vorschnelle Auflösung dieses Konflikts zugunsten einer Alleinherrschaft des Gesetzes. Er gesteht auch dem „inneren Kompass“ eine Berechtigung zu.
„Über die Frage des richtigen oder falschen, gerechten oder ungerechten Rechts entscheidet ein anderes Spannungsverhältnis. Das kodifizierte, garantierte Recht steht eben auch in einem Spannungsverhältnis zu dem, was wir als moralisch Gutes oder Sittliches bezeichnen. Wenn das garantierte Recht und die Gerechtigkeit in einen Widerstreit geraten, dann ist persönlicher Einsatz gefragt und dann ist eine Lösung nur durch die Nutzung des inneren Kompass als Ort der Selbstvergewisserung durch ein Gewissensgespräch und eine Gewissensprüfung zu erreichen.“
Das Gewissen, jene in den letzten Jahren fast vergessene Instanz, die speziell im „freien Westen“ immer wieder hervorgekramt wurde, wenn es um die Würdigung verstorbener und somit für die jetzt Herrschenden ungefährlicher Widerstandsheroen ging — jenes Gewissen war bei den meisten Menschen im Zeitraum von 2020 bis 2022 weitgehend hinter dumpfem Buchstabengehorsam und dem Zurückweichen vor ungeniert ausgeübter Staatsgewalt verschwunden.
Das manipulierbare Gewissen
Christ liefert mit „Corona-Staat“ keinen Rechtsratgeber, eher einen politisch-philosophischen Großessay mit lebendigen Fallbeispielen aus der Praxis gesetzgeberischer und richterlicher Repression. Dabei orientiert sich der Autor immer wieder am Werk großer und für gut befundener Denkerinnen und Denker wie Hannah Arendt:
„Für Hannah Arendt wiederum ist das Gewissen zunächst ein Ausdruck der Konvention, die sich zuweilen auch in Gehorsamshaltungen zeigen kann. Das für sie nahe liegende historische Beispiel ist der Gehorsam gegen das Gewissen als funktionierende Garantie, mit dem laufenden politischen Mehrheitsprozess übereinzustimmen. Das Gewissen also konnte sehr gut von den Nazis oder von jedem anderen gebraucht werden: Es entspricht immer und richtet sich immer nach der Realität. (...)
Zuvor hatten die Nationalsozialisten die Realität entsprechend verändert, indem sie eine Umwertung der Werte vorgenommen und neues Recht installiert hatten. Unter der Verkehrung, die das neue Recht Hitlers herbeiführte, wurde das Böse den Deutschen zur Handlungsregel. (...) Ein gegen das legale Unrecht rebellierendes Gewissen ist entweder den Werten und Zeitgenossen der Vergangenheit oder der Zukunft verhaftet.“
Wer sich also in der Gegenwart dem Unrecht hilflos ausgeliefert fühlt, kann Trost finden, indem er sich als ein Kind gestriger — oder morgiger — Verhältnisse versteht. Die Normsetzung der aktuellen Politik kann so aus einer höheren Warte betrachtet und relativiert werden. Machthaber versuchen uns nämlich gern in einem mentalen Tunnel festzuhalten, gesäumt von undurchlässigen Wänden aus geschriebenem (Un-)Recht und Propaganda. Die so Gefangenen können sich ab einem bestimmten Stadium gar nicht vorstellen, dass andere Verhältnisse möglich, ja dass sie einmal Realität waren.
Im Mittelteil liest sich Alexander Christs Buch wie ein „Worst of Corona-Regime“. Nacheinander beleuchtet er die Gesetzgebung, etwa in Gestalt der verschiedenen Reformen des Infektionsschutzgesetzes, und den Gesetzesvollzug — eingeteilt in Bereiche wie Ordnungswidrigkeiten und Arbeitsrecht. Alles beschreibt er anhand konkreter Vorgänge und Gerichtsfälle und reflektiert diese ausführlich.
Wer die Macht hat, definiert das Recht
Die Beispiele schockierenden Unrechts, die Christ in seinem Buch herbeizitiert, machen wütend:
„Die Corona-Zeit hat viele Einzelfälle von Ungerechtigkeit hervorgebracht. Ungerecht fühlte es sich auch an, als unser Sohn zum Abholen seines Zeugnisses im vergangenen Sommer das Schulgelände nicht betreten durfte, wir, seine Eltern, aber schon. Er saß weinend im Auto vor seiner Schule, während wir in den Innenhof liefen, um für ihn das Zeugnis entgegenzunehmen.
Ungerecht fühlte es sich an, als mir eine Mandantin erzählte, fristlos gekündigt worden zu sein, weil sie auf ihrer Arbeitsstelle einmal keine Maske getragen hatte. Ungerecht fühlte es sich an, als mir ein anderer Mandant berichtete, dass man ihn beim Joggen auf dem Uferweg gestoppt und dann an die Wand gedrückt habe, weil er keinen Personalausweis bei sich getragen habe.“
Derartige Beispiele gibt es im Buch zuhauf. Etwas abstrakter gesprochen, ist „Corona-Staat“ auch ein Buch über die Mechanismen der Macht.
„Gegenpol dieser Freiheits- und Gerechtigkeitsethik ist häufig die Macht, die sich freiheitsauflösend und ungerecht entgegenstellt. (…) Schließlich bleibt noch die Macht als letzte Instanz. Einfach erklärt, ist sie die Fähigkeit, auf andere so einzuwirken, dass diese sich unterordnen. Dies ermöglicht ihr, wenn sie nicht demokratisch-rechtsstaatlich kontrolliert und kanalisiert wird, Regeln in Geltung zu setzen, ohne sich vor einer höheren Instanz legitimieren zu müssen. Nach dem Motto ‚Die Regel gilt, weil ich die Macht habe‘.“
Ein aktuelles Beispiel dafür ist die bekannte Äußerung von Lothar Wieler:
„Diese Regeln werden wir noch monatelang einhalten müssen, ja. Diese müssen also der Standard sein. Die dürfen überhaupt nie hinterfragt werden.“
Hier wurde also ein demokratieunfähiger „Bock“ zum „Gärtner“ ausgerechnet auf dem sensiblen Gebiet der Bürgerrechte gemacht, wo er auch entsprechend wütete und die Blumen zertrampelte.
Regeln müssen stets hinterfragt werden
Wohltuend dagegen Christs Gegenposition: „Das Gegenteil ist vielmehr richtig, Regeln müssen unbedingt und stets überdacht und hinterfragt werden, gerade von professionellen Regelanwendern wie Polizisten, Richtern und anderen Beamten, bevor sich ein freies, selbstbestimmtes, aufgeklärtes Individuum in voller Ausübung der ihm eigenen Entscheidungsfreiheit zu einer Befolgung oder aber auch genauso gut Nicht-Befolgung einer Regel entscheidet. Im Akt der freien Entscheidung liegt die Legitimation der Rechtsregel begründet. Sie muss sich vielmehr gerade in dem fortwährenden Prozess des Hinterfragens immer wieder als bestätigbar erweisen.“
In der Ära eines Wieler, Kretschmann oder Precht mutet ein solcher Satz geradezu anarchistisch an. Dabei sollte es eine pure Selbstverständlichkeit in einem demokratischen Gemeinwesen sein, dass bestehende Rechtsnormen als fließend betrachtet und immer wieder an anderen ethischen Bezugssystemen gemessen werden.
Was also tun, angesichts der allgegenwärtigen „Verwahrlosung unserer Kultur“? Die grundlegende Alternative ist jene zwischen Rückzug und Widerstand.
„Dem Individuum bleibt angesichts dieses ungeheuerlichen Kulturbruchs nichts anderes übrig, als sich ‚auf seinen Stein‘ zurückzuziehen und von dort aus den Untergang der abendländischen Kultur, gleichsam ihr haltloses Versinken im Meer, zu beobachten. Oder aber sich im Gespräch mit sich selbst zum Widerstand zu entscheiden, im Kampf um Recht und Gerechtigkeit, und den Stein am Meer gelegentlich zu verlassen.“
Wir werden einander viel verzeihen müssen
Wir befinden uns jetzt, im Frühsommer 2022, in einer Übergangsphase, in der die Rückschau, die Aufarbeitung des Geschehenen möglich und auch dringend geboten wäre, in der sie aber von den Täterinstanzen noch immer weitgehend verweigert wird.
Gleichzeitig bahnt sich ein Revival eben jener menschenrechtswidrigen Repressionen an, die in der warmen Jahreszeit möglicherweise nur Pause macht. Das Grauen ist nicht tot, es schläft nur. Daher kommt Alexander Christs Buch gerade zur rechten Zeit, um die Ereignisse zu rekapitulieren, die eigene Moral und das eigene Rechtsempfinden wiederzuentdecken, sich mit Argumenten zu wappnen, andere zum Nachdenken zu bewegen und somit eine wirksame Gegenwehr ab Herbst vorzubereiten.
„Wie viel von dem, was in den vergangenen zwei Jahren geschehen ist, werden wir einander verzeihen können? Wie stark ist das Trennende? Ist es vielleicht wie mit einem Glas, das nach dem Herunterfallen zerbrochen ist und das man mit Glaskleber wieder repariert: Die Bruchlinien werden weiterhin zu sehen sein, das Glas wird nie mehr heil? Oder besteht die Hoffnung, dass alltägliche Notwendigkeiten die Menschen wieder zusammenführen werden?“
Nun, hoffen können wir, denn:
„Wir hoffen immer, und in allen Dingen ist besser hoffen als verzweifeln“ (Goethe).
Oder anders gesagt:
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht“ (Vaclav Havel).
+++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 18. Juni 2022 im Rubikon – Magazin für die kritische Masse. +++ Bildquelle: shutterstock / PaeGAG
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