Ein Standpunkt von Anke Behrend.
In Zeiten der Unsicherheit und Angst greifen politische Kräfte aller Couleur auf ähnliche Methoden zurück, um Menschen zu beeinflussen, Macht zu erlangen oder zu festigen. Meist tragen sie eine nahezu beliebige Bedrohung wie eine „Monstranz“ vor sich her, um die Bevölkerung mit negativen Emotionen zu fluten, Sorge und Unsicherheit zu schüren, und sich dann als Retter anzudienen. Diese Manipulationstechnik funktioniert über alle ideologischen und religiösen Linien hinweg – und sie wirkt, weil sie auf grundlegende menschliche Emotionen und Überlebensinstinkte abzielt: Angst, Empörung, Wut aber auch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit, den Wunsch, „die Wahrheit“ zu kennen, vor allem aber, auf der richtigen, moralisch höheren „Seite“ zu stehen. Erstaunlicherweise ist die eigene „Seite“ für deren Mitglieder immer die richtige und bessere. Komplizierteste Exegesen werden angestellt und Regalmeter mit Legitimationsliteratur gefüllt, um die eigene Überlegenheit herzuleiten und im Zuge dessen die „Anderen“ in ein negatives Licht zu rücken. Im schlimmsten Falle sind sie krank, Untermenschen oder haben sich anderweitig für das Zusammenleben mit der vermeintlich überlegenen Gruppe disqualifiziert. Die Geschichtsbücher sind voll davon.
Diese Dynamiken bilden sich einerseits ganz von selbst, denn Gruppenverhalten mit all seinen positiven und negativen Aspekten ist eine Conditio Humana. Sie können aber auch gezielt ausgelöst werden durch die Erfindung einer Katastrophe nebst einer in Aussicht gestellter, möglichst einfacher Lösung und charismatischen Propheten als Kristallisationskerne. Diese Propheten müssen nicht zwingend in persona auftreten. Phantome oder Legenden entfalten oft sogar eine größere Wirkung aufgrund des Interpretationsspielraums, den sie einer nachgeordneten Priesterkaste bieten, die sich alsbald an der Spitze der Bewegung versammelt und zu Bußritualen, Ablass, Beweihräucherung und Dienstleistungen aufruft. Dann hat die Stunde der Hofschranzen geschlagen. Aber natürlich sehen selbige nur von außen wie Schranzen aus. In der In-Group gelten sie als wichtige Unterstützer und Karriereanwärter. Und tatsächlich sind sie beides: unverzichtbare Helfer für ihre Gönner aber Bücklinge in den Augen der Feinde. Die Corona-Krise war ein perfektes Beispiel für diese tribalistische Dynamik. Schon in der ersten Phase der Unsicherheit begann sich der spätere Graben aufzutun. Schnell hatten sich zwei Lager gebildet mit entsprechenden Idolen und Fußvolk. Beide Lager meinten beim jeweils anderen genau die Manipulationstechniken zu erkennen, von denen sie selbst – wie könnte es anders sein?! – völlig frei waren. Die offiziellen Medien – private und öffentlich-rechtliche gleichermaßen – schürten Angst mit dubiosen Werten und absoluten Zahlen, Erstickungstod, Triage und „Bildern“. Damit konnte jener Teil der Bevölkerung beeindruckt werden, der sich vor der Pandemie fürchtete oder aus Bequemlichkeit mitlief. Mancherorts auf Seiten der Kritiker ging es auch nicht viel seriöser zu. Man warnte vor allerlei kuriosem Unbill, von dem man als Neuling in diesen Kreisen möglicherweise noch nie gehört hatte.Selbstverständlich befanden sich auf beiden Seiten des Grabens auch seriöse Stimmen, die eine legitime Sicht der Dinge vorzutragen wussten, aber nur allzuoft in der alarmistischen Kakophonie der Angstmacher untergingen. Innerhalb weniger Wochen waren die Claims abgesteckt und die Feindbilder klar umrissen. Bald verfügte jede Seite über ein beachtliches Maß an Schmähbegriffen. Leugner, Schafe, Blockwarte, die einen waren Nazis, die anderen Faschisten. Was zunächst absurd klingt, trifft tatsächlich den Kern: Teile beider Seiten entwickelten potenziell faschistoide Tendenzen, da extreme Gruppenstrukturen häufig autoritäre und intolerante Merkmale annehmen, die aus der Innenperspektive nicht nur schwer zu erkennen sind, sondern sogar legitim erscheinen. Das Häuflein derer, die mit Zahlen und Fakten der Sache fachlich korrekt beizukommen versuchten, kämpfte nahezu auf verlorenem Posten, denn auf beiden Seiten wurde die Angstspirale immer weiter gedreht und mit dieser Emotionalisierung die Bereitschaft, der Gegenseite zuzuhören immer mehr eingeschränkt. Es drohte wie so oft das Ende der Menschheit – aus heutiger Sicht eine groteske Übertreibung und beinah komisch, wäre nicht der nächste Weltuntergang schon in vollstem Gange.Aus der anfänglichen Absicht, aufzuklären, Widersprüche offen zu legen, zum Nachdenken anzuregen und Raum für eine offene Debatte zu schaffen, hatte sich schnell eine Schlammschlacht aus Zynismus, Hass und Häme entwickelt: „wir gegen die“-Tribalismus. Die Vereinfachung komplexer Probleme schuf zwei antagonistische ideologische Blasen, zwischen denen nahezu jede Form eines sachlichen Austausches unmöglich wurde. Aus Argumenten wurden Parolen. Auf jeder Seite arbeiteten Wortführer gezielt daran, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Was zuvor extrem erschien, wird in Krisenzeiten normal, denkbar, sagbar und schließlich machbar. Aber entgegen dem gängigen Narrativ vom verengten Debattenkorridor bildeten sich faktisch zwei Meinungsblasen, die sich immer weniger überschnitten und zu identitätsstiftenden Echokammern verkamen. In jeder dieser Blasen dürfen inzwischen Dinge geäußert werden, die noch vor Kurzem in unserer zivilisierten Gesellschaft Tabu waren, je schriller umso besser. Auf der Strecke blieb – wer hätte es geahnt? – das kritische Denken. Denn dies zieht immer in Betracht, dass der Andere recht haben könnte. Es sucht nicht nur nach Schwachstellen in der Argumentation der Gegenseite, sondern zweifelt auch an eigenen Überzeugungen. Kritisches Denken bedarf zwingend des Bewusstseins über Wahrnehmungsverzerrungen und Gruppendynamiken.Bald war an den Rändern des Spektrums das Vertrauen in die „Gegenseite“ gänzlich dahin. Die extremen populistischen Kräfte hatten ganze Arbeit geleistet und viele profitierten. Vor allem das Vertrauen in die Institutionen war verloren. Medien, private wie öffentlich-rechtliche, Behörden, Politiker und in deren Fahrwasser Wissenschaftler, Künstler und andere Personen des öffentlichen Lebens hatten sich sowohl an der Panikmache als auch an der Diffamierung der Kritiker beteiligt. Schon der leiseste Zweifel konnte Freundschaften und Karrieren beenden. Stimmte man jedoch in den Chor der Anständigen ein, war einem ein Platz im Himmelreich der medialen Aufmerksamkeit gewiss. Währenddessen Kritiker sich verhöhnen und mit den schrillsten und unseriösesten Figuren gleichsetzen lassen mussten. Selbstredend blieben auch die Protagonisten der Regierungslinie nicht verschont, und absolut keine „Seite“ kann an dieser Stelle pauschal eine höherstehende Moral für sich reklamieren. Jede Gruppe meinte, abseits von Sachargumenten die überlegene zu sein und fand Argumente dafür – oftmals unlautere. Die Gräben vertieften sich und viele wurden noch weiter in die gegnerische Hälfte getrieben. Dort wurden sie mit offenen Armen empfangen, denn die aufgebrachte und reflexartig agierende Masse war ein Glücksfall für schillernde Gestalten, die bis dato der breiten Öffentlichkeit eher unbekannt geblieben waren. Darunter fanden sich neben Scharlatanen auch immer mehr Staatsverdrossene, Libertäre, ein breites Spektrum an Influencern, die in völlig anderen Bereichen bereits Reichweite aufgebaut hatten und nun die Inhalte der kritischen Kanäle einfach wiederkäuten, um damit eine neue Zuschauerschaft zu erschließen. Dabei kam es gar nicht darauf an, ob die vermeintlich kritischen Inhalte valide waren. Hauptsache, man konnte sich genüßlich über ein Feindbild empören.Vor allem aber für Kräfte aus dem rechts-konservativen Spektrum war diese Entwicklung, die Jahre der Pandemie und das unbedachte tribalistische Agieren von Politik und Medien, ein Glücksfall. Seit der Bundestagswahl im Herbst 2021, als die CDU/CSU nicht mehr in Regierungsverantwortung war, schlossen sich auch jene Akteure aus dem rechten und konservativen Spektrum der Kritikerszene an, die bis dahin Merkels Pandemiepolitik mitgetragen hatten und beförderten den Schwenk von Kritik an den Coronamaßnahmen, der Pharmaindustrie und den Machenschaften sogenannter Philanthropen hin zur generellen Ablehnung der Aktuellen Regierung, des Staates, seiner Institutionen, der Ampel und dem neuen Feindbild: den Grünen. Nun wurde alles, was nicht explizit rechts war, als „links“, „Staat“, „Sozialismus“ oder „Kommunismus“ gelabelt – gekrönt von der Behauptung, sogar Hitler sei ein Linker gewesen. Die Absicht dahinter ist so plump wie offensichtlich: Ressentiments und anti-linke Narrative aus der Zeit des Kalten Kriegs werden aufgewärmt, um die aktuelle Regierung unabhängig von Sachargumenten – an denen es wahrlich nicht mangelt – zu verunglimpfen. Exakt die gleiche Funktion hat der Nazi-Vorwurf. Sind die unsachlichen Anwürfe erst einmal ausgesprochen, muss das Opfer sich verteidigen und kann seine Punkte nicht mehr vorbringen. Oft schlagen exakt die selben Akteure mit diesen Todschlagargumenten um sich, während sie gleichzeitig den verengten Debattenraum beklagen.Und fühlt es sich nicht gut an, wenn man Bestätigung für seine Annahmen über die Welt erfährt? Wenn die Gegenseite deklassiert wird und das eigene Team gewinnt? Schon im antiken Colosseum mag es so zugegangen sein. Es ist die gleiche tribalistische Dynamik, das Verteufeln einer „feindlichen“ Gruppe, deren letzte Konsequenz sich in der Geschichte schon mehrfach wiederholt hat, und vor der keine Gruppe gefeit ist. Sei sie nun links, rechts oder anderswo in einem weltanschaulichen Spektrum verortet. Tribalistische Dynamiken in der eigenen Gruppe erkennen, die eigene Komfortzone verlassen und den kritischen Blick, der auf der anderen Seite des Grabens jede Verfehlung findet, gegen die eigenen Überzeugungen richten, kann eine Herausforderung sein, die zunächst verunsichert und vermeintliche Wahrheiten ins Wanken bringen kann. Aber es ist nie auf der Gegenseite alles falsch und auf der eigenen alles richtig. Wer andere diffamiert und kein gutes Haar an ihnen lässt, wer mit Dogmen und Glaubenssätzen operiert oder sich auf ein Feindbild einschießt und Empörung auslöst, hat oft tieferliegende Interessen und Motivationen. Erst wenn wir das, was wir auf der „anderen“ Seite so leicht zu erkennen glauben – Widersprüche, Manipulation, Propaganda, Pseudowissenschaft – auf „unserer“ Seite ebenso erkennen, denken wir wirklich kritisch. Dann werden wir in der Lage sein, aus der Empörungsspirale und dem Denken in Gut und Böse, wir und ihr, auszusteigen und eine zivilisierte Balance zwischen Konkurrenz und Kooperation finden.
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Dank an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Photobank.kiev.ua / shutterstock
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